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Archiv-Artikel

„Die Sprache der kleinen Leute“

Der Niederdeutsch-Spezialist Jürgen Meier hat vollendet, was bereits 1917 begonnen wurde: das „Hamburgische Wörterbuch“, das Varianten des Platt- oder Niederdeutschen dokumentiert, die beispielsweise in Finkenwerden gesprochen wurden. Dafür hat er jetzt den „Quickborn“-Preis bekommen

JÜRGEN MEIER, 69, war bis 2004 Professor für Niederdeutsche Philologie an der Hamburger Universität.

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Herr Meier, wo haben Sie all die Worte gesammelt, die Ihr Lexikon dokumentiert?

Jürgen Meier: Da wir den Zeitraum vom Mittelalter bis in die Gegenwart dokumentieren, haben wir sowohl schriftlich Quellen als auch Gewährsleute herangezogen. Zu den schriftlichen Quellen zählen etwa Werke Johann Wilhelm Kinaus alias Gorch Fock, der platt- bzw. niederdeutsch schrieb. Außerdem haben im 19. Jahrhundert etliche Menschen – meist Lehrer, die sahen, dass der Gebrauch des Niederdeutschen rückläufig war – angefangen, Wörter zu sammeln. Auch diese Sammlungen haben wir – neben Aufzeichnungen aus Wirtschaft und Justiz – ausgewertet.

Wie verbreitet war das Niederdeutsche?

Es wurde in ganz Norddeutschland gesprochen. Erst Anfang des 17. Jahrhunderts trat die hochdeutsche Schriftsprache an seine Stelle. Bis dahin gab es keine deutsche Einheitssprache, sondern drei sprachliche Gruppen: Das Niederdeutsche, das Mitteldeutsche und das Oberdeutsche mit Bayern als Zentrum. Oberdeutsch und Mitteldeutsch werden zusammenfassend als Hochdeutsch bezeichnet. Zum Niederdeutschen hin gab es eine scharfe Sprachgrenze. Das Niederdeutsche war also relativ selbstständig und wurde bis weit nach Nordeuropa hinein gesprochen. Im schwedischen Parlament etwa war die Verhandlungssprache zeitweise Niederdeutsch. Eine schwedische Germanistin behauptet sogar, dass mehr als 50 Prozent des schwedischen Wortschatzes aus dem Niederdeutschen stammen. Auch im norwegischen Bergen, wo die Hanse eine Handelsniederlassung hatte, wurde viel Niederdeutsch gesprochen.

Wo sonst noch?

In London und Flandern wurde es gesprochen. Im Süden verläuft die Sprachgrenze entlang der „Benrather Linie“ bei Düsseldorf – und von dort nach Magdeburg. Außerdem waren damals Mecklenburg, Pommern, Danzig, Königsberg, Riga und das heutige Tallinn niederdeutschsprachig.

An welcher Sprachgrenze orientiert sich Ihr „Hamburgisches Wörterbuch“?

Hier waren die Sprachgrenzen zunächst identisch mit den politischen Grenzen: Erst 1937 wurden Wandsbek, Altona und Wilhelmsburg eingemeindet und zu Hamburg gezählt. In der ersten Phase der Materialsuche für das Lexikon wurden diese Stadtteile deshalb nicht berücksichtigt. Nach 1937 hat man das nachgeholt.

In wie viele Dialekte spaltet sich das Niederdeutsche?

In etliche. Selbst wenn man nur Hamburg in den Blick nimmt, bemerkt man schnell: Es gibt kein einheitliches „Hamburger Platt“. Es gibt verschiedene regionale Mundarten, die sich teils von Dorf zu Dorf unterscheiden. Man kann allerdings aufgrund übergreifender Merkmale einige große Sprachräume herausdestillieren: das Westfälische, das Ostfälische – um Braunschweig herum –, das Nordniedersächsische und das Mecklenburgische.

Und wo verortet sich das Friesische?

Friesisch ist eine eigene Sprache, die mit dem Niederdeutschen nichts zu tun hat. Die Friesen sind allerdings sehr früh – im 15. Jahrhundert – zum Niederdeutschen übergegangen. Es gibt in Ostfriesland nur noch wenige Räume, in denen sich Reste des Friesischen erhalten haben: auf Helgoland und an der nordfriesischen Küste zum Beispiel.

Warum bildet Ihr Lexikon speziell den Hamburger Bereich ab?

Weil das gewissermaßen noch ausstand: Ein Schleswig-Holsteinisches und ein Mecklenburgisches Wörterbuch gibt es schon. Zudem hatte man Hamburg aus der Forschung zunächst ausgegrenzt, weil es hier keine einheitliche Mundart gibt. Denn in Hamburg als Handelsstadt, die speziell seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert viel Zuzug erlebte, flossen viele Mundarten zusammen. Insofern ist Hamburg ein sehr heterogenes sprachliches Feld: Es gibt einerseits die alten Ortschaften, die langsam integriert wurden. Andererseits findet man das Hafen-Platt, das sich aus verschiedenen Mundarten zusammensetzt und auch durch den Zuzug von Menschen aus dem mitteldeutschen Sprachraum beeinflusst wurde.

Erschwert diese Heterogenität das Sammeln speziell?

Das nicht, denn der Sammelprozess ist immer derselbe: Entweder wertet man schriftliche Quellen aus oder man befragt Gewährsleute. Aber das Vokabular ist komplex, weil die Mundarten in Hamburg stark durch die Wirtschaft geprägt wurden. Auch durch die Fachmundarten übrigens. Darunter versteht man fachsprachliche Ausdrücke im handwerklichen Bereich. Es gibt – neben den Mundarten der Gewerbe im Hafen etwa – zum Beispiel eine spezielle Finkenwerder Fischersprache. Eine spezifische Variante des Plattdeutschen, die Jahrhunderte hindurch gepflegt wurde.

Und heute? Hat das Niederdeutsche eine Überlebenschance?

Es ist stark rückläufig. Als ich in den Fünfzigern studierte und mein Geld als Hafenarbeiter verdiente, wurde dort flächendeckend Plattdeutsch gesprochen. Das hat sich durch die ausländischen Zuwanderer inzwischen geändert. Allerdings gibt es noch Bereiche – einzelne Hafenkneipen etwa – wo Plattdeutsch gesprochen wird. Auch in manchen Familien wird es noch gesprochen, wie ich über meine Gewährsleute weiß. Aber sie können natürlich alle auch Hochdeutsch. Niederdeutsch ist allenfalls Zweitsprache.

Wer spricht überhaupt noch Plattdeutsch?

Niederdeutsch war und ist die Sprache der Arbeiter und Handwerker. Wobei die Kaufleute früher meist durchaus Plattdeutsch beherrschten und mit ihren Bediensteten sprachen. Das gehörte bis Mitte des 19. Jahrhunderts zur Tradition. Aber im Prinzip war es die Sprache der kleinen Leute.

Wie alt waren Ihre Gewährsleute?

Sehr alt. Oft war es schwierig, überhaupt welche zu finden. Denn diejenigen, die wir als Sprach-Zeugen heranziehen wollten, mussten in Hamburg geboren sein und Plattdeutsch als Haussprache gelernt haben. Nicht unbedingt als Erstsprache, aber sie sollten innerhalb der Familie Plattdeutsch gesprochen haben. Und davon gibt es nicht mehr viele.

Würden Sie für das Schulfach Niederdeutsch plädieren?

Mit dem Herzen ja, mit dem Verstand nicht. Denn es hat wenig Zweck, eine Sprache zu unterrichten, wenn die Kinder keine Chance haben, sie zu sprechen. Ich könnte mir Unterricht im Rahmen eines freiwilligen Angebots vorstellen. Ein Pflichtfach aber nicht.