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Archiv-Artikel

Asta Nielsen zu Füßen

Wenn das Arsenal Kino Stummfilme zeigt, wie jetzt die von Asta Nielsen, sitzt fast immer Eunice Martins am Flügel. Eine Begegnung mit der Pianistin, für die Stummfilmbegleitung eine Dreiecksbeziehung zwischen Film, Publikum und Musik ist

VON CLAUDIA LENSSEN

Wenn es dunkel wird im Kino und der Film beginnt, sitzt Eunice Martins sehr aufrecht an ihrem Flügel, links vor der Leinwand. Asta Nielsen, die leidenschaftlich zupackende Kleine-Leute-Diva, der das Arsenal Kino gerade eine Retrospektive widmet, tritt auf, dem Blickwinkel der Pianistin ganz nah und zugleich fremd, ein bisschen schräg nämlich. Mit wenigen zurückhaltend temperierten Akkorden setzt die Begleitmusik ein. Ihren eher leisen Stil, diese Lust an klingenden Pausen, wird Eunice Martins bis zur Schlussapotheose jedes Films ausfeilen. Dann steht sie schwungvoll auf, bedankt sich mit fliegender Haarmähne für den Applaus und schließt mit einer Geste voller Grandezza Richtung Leinwand den Filmstar Asta Nielsen in die Würdigung ein.

Was sich da oben abspielt, meint Eunice Martins im Gespräch, „ist doch nicht viel anders als das, was uns heute auch bewegt“: Liebe und ihre Verletzungen, Verbrechen aus Leidenschaft, Mütter mit Kindern gegen die Schlechtigkeit der Welt. Die Sujets wirken immer noch unmittelbar, sodass ihr auch die zehnte Aufführung nicht langweilig wird. Jedes Mal entdeckt sie beim Zuschauen und Spielen überraschende Details. Nicht zuletzt daraus entsteht das einmalige Ereignis jeder Aufführung.

Konzepte? Ja, die arbeitet die Pianistin für sich aus, notiert sie auf einem Blatt, meist nach der Sichtung am Schneidetisch. Doch erst im Kino in der laufenden Vorstellung „öffnet sich der Raum“, spürt sie, wie das Publikum reagiert. Wenn die Zuschauer nicht mitbekommen, was ihrer Meinung nach in einer Szene drinsteckt, dann „muss ich halt mehr machen“, lacht sie und imitiert die typischen Fingerübungen nervöser Pianisten.

Pure impulsive Improvisation ist das nicht, vielmehr hat sich Eunice Martins einen „Pool“ von speziellen musikalischen Elementen für jeden Film zurechtgelegt. Bei der Vorbereitung sucht sie nach den atmosphärischen und thematischen Ebenen, zum Beispiel nach einer bestimmten Urbanität oder psychischen Intensität. Dann sind ihr auch atonale Klänge lieb, die die Modernität unterstreichen. Nur manchmal, beispielsweise bei einer Berliner Milieukomödie wie „Vordertreppe Hintertreppe“, spielt sie bekannte Schlager an. „Puppchen, du bist mein Augenstern“ passt genau in die Stimmung dieses bekannten Films mit Asta Nielsen. Aber grundsätzlich mag sie keine Stummfilmbegleitung, die sich zur Effektsteigerung auf das Zitieren bekannter Melodien stützt. Überhaupt findet Eunice Martins, dass Asta Nielsen aus sich selbst heraus expressiv wirkt, da wären Illustrationsmusik und schlichte Doppelung der Emotionen langweilig.

Seit acht Jahren ist die an der Berliner Hochschule der Künste und der Wiesbadener Musikakademie ausgebildete Pianistin und Komponistin die Hausmusikerin des Berliner Arsenal Kinos. Ihr Vorgänger war der legendäre, im vorigen Jahr mit 103 Jahren verstorbene Willy Sommerfeld. Eunice Martins, die 1965 in Berlin geboren wurde, bewundert an ihm, dass er die alte Tradition der Stummfilmmusik noch leibhaftig verkörperte. Obwohl sie selbst immer neu von der zeitlosen Eingängigkeit vieler Stummfilme fasziniert ist, hat sie doch auch mit deren Langsamkeit oder Zappeligkeit, also den fremd gewordenen historischen Erzählformen zu kämpfen.

Zum Beispiel drückt Asta Nielsen in ihren späten Filmen wie „Hamlet“ (1921) oder „Die freudlose Gasse“ ihr reiferes Rollenverständnis in einer Intensivierung der Spielweise aus, indem sie Emotionen nicht extrovertiert in Gesten übersetzt, sondern mit suggestiver minimalistischer Mimik darstellt. In solchen Momenten, sagt Eunice Martins, wird die Pause wichtig, weil sich die Spannung „solo“, das heißt im Gesicht der Diva aufbaut. Anders bei Fritz Langs monströsem Film „Metropolis“: Wenn 280 Jugendliche stundenlang vor die Leinwand zu bannen sind, sagt Martins, „muss schon richtig Hollywoodromantik her“.

Musik ist für Eunice Martins nicht festgelegt, sie ist permanente Kommunikation. Durch die Fremdheit der Filme hindurch möchte sie deren künstlerischen Kern erreichen, und sie möchte Stummfilme auch jenseits von rein historischer Betrachtung zum Erlebnis machen. Versteht sie sich als Dienerin der Filme? „Nein“, hält sie entgegen, „ich verstehe mich als Teil eines Trios.“ Im dunklen Kino schaut sie beim Spielen nicht nur permanent zu Asta Nielsen oder anderen Stummfilmstars auf, sondern spürt ebenso intensiv, was sich hinter ihrem Rücken im Publikum bewegt. Ihre Musik soll den Film nicht vorexerzieren und Bedeutungen suggerieren, sie soll „Möglichkeiten offenhalten“. Stummfilmkino ist für Eunice Martins eine Dreiecksbeziehung, ein Schwingungsverhältnis zwischen Film, Zuschauern und Musikerin.

Alle ihre Aktivitäten als Komponistin, Improvisationsmusikerin und Stummfilmpianistin sind hiervon inspiriert. Nicht nur als Solobegleiterin der großen Asta-Nielsen-Retrospektive hat Eunice Martins Erfahrungen gesammelt, sie hat über hundert Stummfilme im Repertoire und ihren eigenen musikalischen Kosmos entwickelt. Sie nimmt Lehraufträge für das diffizile Handwerk der Stummfilmmusik wahr, komponiert für neue Filme und lässt sich für ihre Improvisationskonzerte auch von der Musique concrète inspirieren. „Früher“, erklärt sie ihre Liebe zum stummen Kino, „wurden Bildergeschichten erzählt, in denen man als Zuschauer frei herumspazieren konnte. Heute werden die Blicke im Kino viel mehr geführt.“ Sie möchte dem Publikum mit ihrer Musik helfen, für beide Wahrnehmungsformen offen zu bleiben. Jeder Abend ist eine „Gratwanderung“, die Eunice Martins in ihren Auftritten im Arsenal Kino und anderswo fortführen will.

Die Retrospektive „Sprache der Liebe. Asta Nielsen, ihre Filme, ihr Kino 1910–1933“ läuft noch bis zum 13. April. Programm unter www.fdk-berlin.de/de/arsenal/programm.html