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Archiv-Artikel

Trash, Traum, Treffer

„Voice“, die einzige Dietrich-Choreografie der Spielzeit

Eine Frau kauert stumm in der Ecke, am Rednerpult wird wortlos deklamiert, die Wände des Schauspielhauses füllen sich mit Schriftzeichen. Urs Dietrichs Arbeit über das akustische Mitteilungsorgan des Menschen, „Voice“, nähert sich seinem Gegenstand oft ex negativo. Aber mehr noch als ein Statement über Kommunikation erscheint das Stück wie eine Demonstration des Theatralen – als Manifest der Erzähllust angesichts primär ästhetisch orientierter choreografischer Zugriffe.

„Voice“ ist Dietrichs einziger Spielzeit-Beitrag. Er firmiert zwar als künstlerischer Leiter des neuen „Tanztheaters Nordwest“, die übrigen Produktionen bleiben jedoch Gastchoreografen und Dietrichs Oldenburger Kollegen Jan Pusch vorbehalten.

Vor diesem Hintergrund scheint die überbordende, stellenweise komplett überdrehte Theatralik von „Voice“ auf die Bremer Tradition zu verweisen. Im kommenden Jahr wäre die Sparte, die sich mit Hans Kresnik vom „Ballett“ verabschiedete, in ihrer bisherigen Struktur 40 Jahre alt geworden. Dietrich selbst ist seit 1994 dabei. Mit „Voice“ reizt er nicht nur die narrativen Mittel von Mimik, Garderobe und situativer Interaktion bis weit über deren Grenzen aus, er lässt aus dem Off auch allerlei Theorien über das Schauen rezitieren: „Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einer kleinen Theaterspielstätte in Westeuropa …“ – und schon werden weitere ProtagonistInnen auf Rollwägelchen hereingefahren. Sie sind Teil einer neuen Versuchsanordnung, die doch immer, allen Shake Hands-Orgien zum Trotz, im Aneinandervorbei oder solistischen Traumsequenzen endet. Menschen in verschiedenen Bekleidungsstadien rennen aufeinander los, wer nicht gerade per Handyanruf absorbiert ist, wird von weißbekittelten Trillerpfeifen-Autoritäten gescheucht.

„Voice“ ist unterhaltsam, ohne dass das jemand missfallen müsste, hat fellineske Opulenz, Dietrich’sche Bewegungsintelligenz und scheut selbst vor James Bond-Parodien nicht zurück. Am Schluss errichtet das Ensemble, mit gefrosteten Spitzfrisuren zu Luxus-Shoppern mutiert, kleine Waren-Altäre.

Man staunt, wie Robert Przybyl, einer der Neuzugänge, bei aller Kräftigkeit seines Körpers zu tänzelnder Leichtfüßigkeit in der Lage ist. Vor allem aber spürt man die Vertrautheit eines Teils des Ensembles mit Urs Dietrich. Héloise Fournier und Constantin Georgescu sind weitere gut gewählte Ergänzungen der nurmehr zehnköpfigen Compagnie, doch auch die Stimmigkeit dieser Neuzusammenstellung macht sich erst unter den Händen des alten Choreografen bemerkbar. Henning Bleyl