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Bevor das Bild benennbar ist

Olav Christopher Jenssen hängt am Augenblick: „Zeitweise“ heißt die Schau mit neuen Arbeiten im Haus am Waldsee

Olav Christopher Jenssen gönnt den Besuchern seiner Ausstellung „Zeitweise“ im Haus am Waldsee eine Erfrischung. Die Zehlendorfer Villa, von Direktorin Katja Blomberg wieder zu einem vielseitigen Ort internationaler Gegenwartskunst gemacht, hat jüngst gegenständliche Malerei präsentiert: das angestrengt naive Kunstwollen des Norbert Bisky. Darauf folgten die komplexen Fotomontagen von Beate Gütschow, die verwirrende, schwarzweiße Architekturlandschaften konstruiert und sich der niederländischen Landschaftsmalerei mit Photoshop näherte. Zwei Positionen, die eine Gemeinsamkeit haben: Beide Künstler finden ihre Referenzpunkte im Vergangenen.

Jenssen (geboren 1954 im norwegischen Sortland, Berliner seit 1983) lehnt solche Versuche ab. Statt die Vergangenheit zu vergegenwärtigen, geht es ihm um das Jetzt. Er sei kein Intellektueller, sagt er von sich. Dass Wissen stets konditioniert sei, empfindet er als Dilemma. Malerei begreift er als Experimentierfeld, als die ständig neue Eroberung von Formen, Farben und künstlerischen Techniken. Jenssens Verständnis des kurzen Augenblicks von Gegenwart vermutet Katja Blomberg als „den Moment im Gehirn, wo das Bild nur Bild, aber noch nicht benennbar ist“.

Vergleicht man seine neuen Arbeiten – alle Exponate im Haus am Waldsee sind dieses oder letztes Jahr entstanden – mit älteren Werkgruppen, wie sie etwa 2003 im Kunstmuseum Bonn gezeigt wurden, dann ist eines unverkennbar. Die früher häufig auf den Bildern auftretenden Wörter sind verschwunden. Keine Palindrome mehr, keine geheimnisvollen Abkürzungen, keine Buchstabenketten. Nur selten tauchen Lettern auf, die zudem als Fragmente im gestischen Duktus der Malerei untergehen. Und auch dieser informellen Weise zu malen, die bisweilen an den abstrakten Expressionismus von de Kooning erinnerte, scheint er den Rücken zu kehren.

Vielleicht sind die Momente im Gehirn, in denen Bilder entstehen, doch geordneter und strukturierter. Jedenfalls dominieren scharfe Schnitte und klar abgegrenzte Flächen Jenssens neue Gemälde. Mit der horizontalen Staffelung von Farbsegmenten täuscht er abstrahierte Landschaften an, die im nächsten Augenblick vektorartig auseinandersplittern. Ruhige Farbfelder lösen sich am Rand in grafische Pixel auf. Auf archaische Formen folgen Schlieren, Farbspuren, schablonierte Elemente, scheinbar Gestempeltes. Jenssen widersetzt sich hartnäckig der Vereinnahmung durch kunstgeschichtliches Bildwissen und setzt falsche Fährten.

Der Ausstellungsparcours hilft ihm dabei. Nach den ersten Gemälden bahnt man sich den Weg durch von der Decke hängende Gipsskulpturen. Eigentlich der Abstraktion ergeben, überrascht Jenssen in einem Kabinett mit figurativen Zeichnungen und fröhlichen Aquarellen. Und mit kohlegezeichneten Fundstücken aus dem Sommerhaus von Edvard Munch: Türknauf, Buttermesser, Teesieb. Im Obergeschoss dann Knetskulpturen aus Ton.

Wohltuend ist, wie diese Ausstellung ganz ohne das Pathos auskommt, das der zeitgenössischen Malerei so oft anhaftet. Der Moment der Gegenwart, der Augenblick der Kunst: Er ist experimentell, schnell erlebt – aber vielleicht auch rasch vergessen.

MARCUS WOELLER

Bis 8. 6., Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, Zehlendorf

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