: Musikalischer Ausnahmezustand
Das Bremer Musikfest beginnt mit einer „Großen Nachtmusik“, die sich über den ganzen Kern der historischen Innenstadt erstreckt. Zuvor konnten sich erstmals auch Kinder beteiligen
Von Henning Bleyl
Herbert Joos völlig verhauchter Trompetenton setzt in genau dem Moment ein, als sich die Sonne auf das viersäulige Giebeltürmchen der Staatsanwaltschaft zurückzieht. In den schattigen Steinschluchten darunter bricht sich jetzt die geballte Power des „Orchestre National des Jazz“ Bahn: Fast 30 Musiker, ohne Binnen-“I“, die die neomittelalterlichen Innenhöfe der Justizburg in ein akustisches Festival-Labyrinth verwandeln.
Die ersten Töne des 19. Musikfestes sind zugleich die letzten von Franck Tortiller als Chef des „Orchestre National“. Hätte Bernd Neumann eine eigene Big Band, wäre sie das Pendant dieser Formation des französischen Kulturministeriums. Ob es als solches irgendwie Pflicht ist, den valse francais als Stilform zu featuren, weiß man nicht – in jedem Fall ist die Annäherung des unter anderem mit drei Schlagwerkern ausgestatteten Ensembles an die eher leichte Musette-Form ein spannendes Experiment. Insbesondere, weil Tortiller auch Olivier Ker Ourio mit gebracht hat, dessen Harmonika ebenso zu ruppigen Riffs wie zarten Schalmei-Klängen taugt.
Die Zahl der dieses Jahr vom Musikfest aufgebotenen KünstlerInnen reicht fast an die Tausender-Grenze. Salzburg war gestern, Bremen ist heute – zumindest zeitlich gesehen eine unbezweifelbare Aussage. Doch während Bremen mit dem gerade zu Ende gegangenen österreichischen Mega-Festival in den Vorjahren bei einigen sehr bemerkenswerten Opernproduktionen kooperieren konnte, hat man für 2008 auf kostenaufwändiges szenisches Musiktheater verzichtet. Dafür gibt es mit dem „Musikalischen Notenkoffer“, dem Mitmach-Programm des „Concilium Musicum Wien“, erstmals ein Angebot für Kinder. Ein ausbaufähiger Ansatz, denn neben der Großgruppe der Niedrigverdienenden war bislang auch der Nachwuchs vom Musikfest weitgehend ausgeschlossen.
In der oberen Rathaushalle hat sich derweil die „Accademia Bizantina“ aufgebaut: Ein Barock-Ensemble, das sich – ein generelles Plus der Musikfest-Konzeption – durch die Einstudierung selten gehörter Werke auszeichnet. Beim „Trio“ der Komponistin Maddalena Laura Lombardini Syrmen zeigt die „Accademia“ zudem jenen Typus von Virtuosität, die in ihrer Mischung aus Filigranität und leichter Verwaschenheit dem ursprünglich intendierten Klangbild vermutlich sehr nah kommt.
Insgesamt sind am Eröffnungsabend über 20 Konzerte rund um den Markt zu hören. Wie meint das Stammpublikum unter den Rathausarkaden, das hier auch an weniger spektakulären Tagen ausharrt? „Schön“, sagt Thomas, der es sich auf den noch aufgeheizten Steinbänken bequem macht: „Sonst ist hier abends tote Hose.“ Sein Weißwein kann mit den eher süßlichen Geschmacksnoten einiger kommerzieller Verköstiger vermutlich durchaus mithalten. Der Abschluss im Dom: Das „Collegium Vocale Gent“ mit Phillipe Herreweghe. An der Teilnahme von Herreweghe und anderen in der „Historisch informierten Aufführungspraxis“ groß gewordenen Spitzen-Artisten merkt man immer wieder, dass auch Festival-Chef Thomas Albert aus ebendieser Szene stammt. Herreweghe musiziert Mess-Kompositionen von Messiaen und Bruckner, eine über weite Strecken makellose Darbietung. Erst beim Fortissimo des „Sanctus“ fordert der Dom den üblichen Tribut, in dem er das von Heereweghe ohnehin extrem obertonreich gestaltete Klangbild zerflirren lässt. Als Gesamtereignis präsentiert sich die „Große Nachtmusik“ samt Innenstadt-Illumination als verheißungsvoller Auftakt. Wobei man es auch als 1969 Geborener deplatziert finden kann, den Himmel per gaudium von Suchscheinwerfern abtasten zu lassen.