Ein Ort der Klausur

Der Kunstraum Hüll befindet sich mitten auf dem Lande und bietet ein anspruchsvolles Programm aus zeitgenössischer Kunst und Musik. Betrieben wird der Kunstraum von dem Theaterwissenschaftler Manfred Strohm, dem die Abgeschiedenheit des Ortes wichtig ist

Ein Besuch im Kunstraum Hüll ist für jeden Musik- und Kunstliebhaber der ultimative Grund sich ein GPS anzuschaffen. Selbst wer im nahe gelegenen Drochtersen kurz hinter Stade nach dem Weg fragt, kriegt meist nur ein Schulterzucken zur Antwort. Und der Tankwart, der dank Karte an der Wand schließlich doch weiterhelfen kann, schmunzelt: „Da sagen sich aber Fuchs und Igel gute Nacht.“ Für den Theaterwissenschaftler Manfred Strohm war eben diese Abgeschiedenheit der Grund, ausgerechnet im kleinen Örtchen Hüll, mitten im Elbe-Weser-Dreieck eine Stätte zur Pflege zeitgenössischer Kunst und Musik zu gründen. Zufällig verirrt sich niemand hierher und allzu viele Möglichkeiten der Zerstreuung gibt es auch nicht. Wer den Kunstraum Hüll besucht, kommt einzig deshalb, um sich intensiv und ausschließlich mit Positionen der Moderne auseinander zu setzen.

Seit 15 Jahren betreibt Strohm „seinen“ Kunstraum und organisiert jährlich sechs bis sieben Ausstellungen, dazu Filmreihen, Konzerte und sogar ein eigenes Festival mit dem Titel „Im Atelier der Klänge“. Sein erklärter Anspruch ist, dem Publikum „die Kunst der Moderne so bereit zu stellen, dass man sie nicht bloß einmal zur Kenntnis nimmt und vergisst, sondern sich kontinuierlich damit auseinander setzt“. So baut Strohm in seinen Musikprogrammen vor allem darauf, zusammen mit einem treuen Stammpublikum dicke Bretter zu bohren und an der „Verstetigung modernen Komponierens teilzuhaben“. Uraufführungen, die prestigeträchtig aber teuer sind, gibt es in Hüll nicht, dafür aber drei klare Programmlinien und einen langen Atem.

Komponistenportraits, der Blick von heute zurück zu den Quellen der Moderne sowie die Begegnungen verschiedener Kunstformen und Kulturen bestimmen die Musikprogramme in Hüll. Wobei der Kunstraumleiter über Jahre hinweg gezielt Werke wieder ins Programm aufnimmt und Komponisten erneut einlädt, um sein Publikum an Künstler oder bestimmte Fragestellungen heranzuführen. Wiedersehen mit Jörg Widmann, Jörn Arnecke oder der aserbaidschanischen Komponistin Frangis Ali-Sade ziehen sich als roter Faden durch die letzten Jahre. In Portraits zu Toshio Hosokawa oder Xiaoyong Chen wurde das musikalisch Spannungsfeld zwischen Asien und Europa ausgelotet, und der Komponist Gerhard Stäbler präsentierte seine Musik hier im Rahmen einer Ausstellung mit konkreter Malerei.

Der Musik-Retrospektive des Jahres 2008 gilt das Thema „Beethoven im Blick der Moderne“. Wobei Strohm mit dem Leipziger-, dem Nomos- und dem Auryn-Quartett die Creme der Quartettformationen engagiert hat, um in Werken von Nono, Rihm oder Halffter diese Perspektive auszuleuchten. Und wäre ihm sein Sponsor nicht abgesprungen, hätte er auch „Die wilden 1920er-Jahre“ im „Atelier der Klänge“ wieder aufleben lassen.

So aber stimmt Strohm in die Klage vieler Kulturschaffenden ein, die ihre Projekte ohne institutionelle Förderung von Mal zu Mal einzeln finanzieren: „Geld ist das Hauptproblem. Im Grunde ist es seit 15 Jahren ein Ritt auf der Rasierklinge.“ Zwar sei es Politik des Landes Niedersachsen, Kultur in die Fläche zu tragen, doch in der Region selbst rangiert das Interesse am Heimatverein oder dem „Krimiland Kehdingen-Oste“ mit „Morden zwischen Moor und Marsch“ deutlich vor dem Engagement für die musikalische Moderne. Der Großteil von Strohms Publikum kommt so aus dem weiten Gebiet zwischen Cuxhaven, Bremen und Hamburg angereist. Und wie er weiterhin Kulturinteressierte bewegen kann, die Odyssee zu ihm zu unternehmen, bleibt Strohms wichtigste Sorge.

In seinen ersten Anfänge hatte der Kunstraum seine Heimstatt noch in der Scheune eines in jahrelanger Eigenarbeit renovierten Bauernhofes, der heute ein Seminarzentrum mit Hotel beherbergt. Inzwischen verfügt der Kunstraum über einen modernen Anbau. Und liefe alles wie geplant, kämen bald noch ein zweiter Saal und Gastronomie hinzu. Im Idealfall möchte Strohm hier später kompakte, mehrtägige Veranstaltungsblöcke anbieten, bei denen man sich in Seminaren, Filmen, Ausstellungen und Konzerten mit einer Thematik unter den verschiedensten Blickwinkeln auseinander setzen kann.

Der Kunstraum Hüll wäre dann endgültig zu dem geworden, was seinem Gründer offenbar seit langem vorschwebt und wozu er selber vor 30 Jahren ins kulturelle Bermuda-Dreieck zwischen Elbe und Weser gezogen ist. Ein Ort der Klausur, in dem man ungestört nachdenken kann über Fragen wie: „Was ist Ausdruck unserer Zeit? Was beschreibt Wirklichkeit?“

Walter F. Stettler

nächstes Konzert: Beethoven im Blick der Moderne (3) am 19. September