: Filmfest in den Flegeljahren
Seit gestern findet das 15. Filmfestival in Oldenburg statt. Bis Sonntag werden etwa 70 Filme gezeigt.
Auf dem Cover des Programmheftes grinst in schickem Schwarzweiß eine heftigst Pubertierende in Punkoutfit und mit Zahnspange - auf der letzten Seite strahlt dagegen ebenso hemmungslos eine Heilewelt-Familie auf der extrem einfallslosen Vierfarbanzeige einer Oldenburger Apothekenkette. Der Kontrast ist so extrem, dass die Organisatoren des Oldenburger Filmfestivals schon mit dem Programmheft einen (wenn wohl auch unfreiwilligen) Lacher erzielen, aber die beiden Deckblätter bringen auch schön den Widerspruch auf den Punkt, mit dem das Festival nun schon im 15. Jahr umgehen muss.
Der Gründer Torsten Neumann wollte immer ein cooles Festival in der niederdeutschen Provinz machen. Oldenburg hat zwar als Universitätsstädtchen ein Publikum für solch eine junge und freche Festivität, aber dessen Umfang ist dann doch eher übersichtlich, und so muss auch der ganz normale Oldenburger, der u.a. im Rathaus sitzt, in irgendeiner Weise das Festival unterstützen. Inzwischen meistern Neumann und sein Team diesen Spagat meisterlich. Auf der einen Seite hat Ouldenböörg bei den unabhängigen Filmemachern in den USA einen sehr guten Namen. Seit einigen Jahren lassen sich viele von ihnen gerne hierher einladen - nicht zuletzt um hier jeweils die Filme der anderen Kollegen zu sehen. Und auch junge deutsche Filmemacher kommen gerne, denn in Oldenburg lässt es sich gut feiern.
Auf der anderen Seite hat Neumann geschickt die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten der Stadt eingebunden. So gibt es traditionell einen großen Bahnhof bei der (gestrigen) Eröffnungsgala, bei der alle, die in der Stadt etwas auf sich halten, zum Sehen und Gesehenwerden kommen. Die Oldenburger Landesbank ist nicht nur Sponsor, sondern ihre Hauptfiliale wurde auch mit dem OLB Kino zur Spielstätte geadelt, und seit einigen Jahren wurde sogar die Hochkultur an Bord geholt worden, denn im Staatstheater findet jedes Jahr eine festliche Filmfestnacht statt.
Die hässliche Anzeige ist ein Beleg dafür, dass die Kompromisse nicht immer schmerzfrei sind, aber die Hauptsache ist auch beim Programm der Inhalt und nicht die Verpackung. Und Qualität, Bandbreite sowie Hip-Faktor der gezeigten Filme steigt von Jahr zu Jahr. Diesmal ist neben den traditionellen Programmschienen „Internationale Premiere“ (mit Brian de Palmas Irakkrieg-Drama „Redacted“) und „Independent Reihe“ (mit „Choke“ nach dem Buch vom Chuck Palahnuik) viele Dokumentarfilme mit neugierig machenden Themen wie dem New Yorker Kult um das Chelsea Hotel oder die absurden politischen Zustände im heutigen Turkmenistan im Programm.
Und auch der mit einer Retrospektive geehrte amerikanische Filmemacher James Toback hat mit “Tyson“ einen Dokumentarfilm über den Bad Boy der internationalen Boxszene Mike Tyson gedreht. Toback ist einer von diesen besessenen Regisseuren, die es im Filmgeschäft nie bis ganz oben bringen, weil sie kompromisslos ihren Visionen folgen. Doch Harvey Keitel war selten wieder so gut wie in Tobacks Debütfilm „Fingers“. Noch peripherer ist und eigenwilliger ist Michael Wadleigh, der insgesamt nur zwei Filme fertig stellte, die aber beide epochal waren. 1970 machte er „Woodstock“, und sein Praktikant am Schneidetisch war damals Martin Scorsese. 1981 drehte er mit „Wolfen“ den ersten Öko-Horrorfilm. Ein zweites Tribute gilt Marius Müller-Westernhagen, und heute Abend soll er selber „Der Schneemann“ von Peter F. Brinkmann vorstellen. Den findet sogar die Apothekerfamilie gut.
Wilfried Hippen