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Archiv-Artikel

Wie bei Castor und Pollux

Thorsten Schmitt ist der ältere Bruder des populären Skispringers Martin und gehört zum Team der Nordischen Kombinierer, das derzeit für Furore sorgt. Ein Siegertyp ist der 27-Jährige aber nicht

aus Oberhof MARKUS VÖLKER

Im Ziel gibt Thorsten Schmitt ein Bild des Elends ab. Speichelfäden hängen ihm aus dem Mund. Er schnappt, auf die Skistöcke gestützt, nach Luft. Das Gesicht ist gelb und grün angelaufen vor Erschöpfung. Minutenlang bleibt er unansprechbar. Irrt im Zieleinlauf umher, ohne seine Sachen zu finden. Ein Betreuer nimmt sich dann seiner an. Es ist nicht nur die körperliche Auszehrung nach dem Langlaufsprint über 7,5 Kilometer, auch die Enttäuschung wegen des unbefriedigenden Ergebnisses lässt den 27-Jährigen schlecht aussehen. Das Erste, was er herausbringt, betrifft seine Skier: „Die waren heute vielleicht beschissen“, sagt er. Sein Mannschaftskollege Björn Kircheisen rühmt im gleichen Augenblick die guten Gleiteigenschaften seiner Bretter. „Ich kann mir das nicht erklären“, sagt Schmitt und blickt an die Anzeigetafel, auf der eine 19 prangt.

Der Lauf gehört nicht zu den Stärken Schmitts. Er ist schon froh, unter die besten 20 zu kommen. „Ideal wäre Rang 15.“ Das Springen klappt weit besser. Das liegt in der Familie. Auch wenn der Neujahrstag kein Schmitt-Tag war. Bruder Martin den ersten Wertungssprung bei der Vierschanzentournee in Garmisch vermasselt. Thorsten nur mit einem mäßigen Wettkampf in der Nordischen Kombination in Oberhof. Die Geschlagenen haben sich nach dem verpatzten Jahreseinstieg sofort ausgetauscht. Sie telefonieren täglich. Und sie haben eine gemeinsame Wohnung. In Freiburg, wo Thorsten Volkswirtschaftslehre studiert. Skisprung-Schmitt hat dem nordischen Schmitt am Telefon gesagt, dass sein Sprung so mies nicht gewesen sei und auch umgekehrt gab’s aufbauende Worte. „Ich habe ein Verhältnis zu ihm wie zum besten Kumpel“, sagt Thorsten, der wie sein drei Jahre jüngerer Bruder abgehackt spricht, die Marotte allerdings so weit getrieben hat, dass er einen rechten Silbensalat fabriziert.

In dieser Saison sind fünf Plätze unter den Top 15 herausgesprungen, zu wenig, um sich in der starken Mannschaft der Kombinierer für die Weltmeisterschaften zu qualifizieren. „Es hat halt nie alles zusammengepasst“, sagt er. „Ich trau mir das allerdings schon zu.“ Wenn man Bundestrainer Hermann Weinbuch zu den Ambitionen von Schmitt befragt, macht er ein Gesicht, das aussieht wie ein großes „Na ja!“. Doch schon, er könne sich hier und da verbessern, fünf Meter im Springen drauflegen und ein paar Sekündchen in der Loipe, aber zur ersten Riege der Ackermänner und Kircheisen zählt er nicht. Es fällt sofort auf, dass Schmitt die Pose des Alpha-Tiers, unterlegt mit einem Hauch präzeptorischer Arroganz, völlig abgeht. Schmitt redet nicht von der Erstürmung des Podests, er sagt Sätze wie: „Grundsätzlich macht mir die Kombination schon Spaß.“

1998 stand der Sport bei ihm auf der Kippe. Und nicht nur der. Auch das Leben von Thorsten Schmitt. Eine Routineuntersuchung endete mit der Diagnose Hodenkrebs. Schmitt orientierte sich am Leidensweg von Lance Armstrong und überwand die Krankheit. „Ich hab versucht, das Beste daraus zu machen, auch wenn’s blöd klingt, es hat ja was gebracht, psychisch und so. Früher hat es nur den Sport gegeben und wenn’s da nicht lief, war alles schlecht.“ Die Anfälle von schlechter Laune und die Grübelattacken kann er heute besser bewältigen. „Ich bin jetzt schnell wieder gut drauf.“

Früher hat ihn die ewige Fragerei nach seinem Bruder furchtbar genervt, weil es wie eine Entmündigung war. Er – das Anhängsel. Der auch Sport macht. Wo gleich? Ah, Nordische Kombination. So, so. „Ich steh jetzt drüber über der Fragerei“, sagt er. „Martin ist halt ein einzigartiger Sportler.“ Spätestens da weiß man, dass es im Hause Schmitt nicht wie bei Kain und Abel zugeht, sondern eher Verbundenheit herrscht wie bei Castor und Pollux, jenem Zwillingspaar aus der Mythologie, das bis in den Tod verbunden war.

Er hat es noch nicht aufgegeben, wenigstens in die Nähe von Martin zu kommen. Der Kampf der Geschwister stachelt ja bekanntlich den Ehrgeiz an. Manchmal kann der Wille, aus dem Schatten des Bruders zu treten, aber auch in die Irre führen. Beim Weltcup im tschechischen Liberec im vergangenen Winter hat Thorsten Schmitt seine Chance auf den großen Coup gewittert. Nach dem ersten Sprunglauf an der Spitze frischte der Wind vor dem zweiten böig auf. Weinbuch verordnete seinem Team einen Ausstieg aus der Veranstaltung. Nur Schmitt fügte sich nicht. „So schlimm war der Wind nicht, und ich hatte endlich einmal die Möglichkeit, ganz vorn zu sein“, so hat er sich damals gerechtfertigt. Es wurde schließlich der fünfte Platz, sein Topresultat im Weltcup. Weinbuch und Ackermann („Thorsten stand nicht hinter dem Team“) zürnten über den unsolidarischen Akt. Von „Streikbrecher“ war die Rede. Man hat sich danach wieder arrangiert und auf das Wesentliche konzentriert: das Training. Aber Thorsten Schmitt kann rackern und schuften und sich schinden, wie er will, sein Innerstes wird ihm immer die bittere Wahrheit präsentieren: „Was Martin geleistet hat, das schaff ich nicht.“