EIN KLEINFLUGZEUG RECHTFERTIGT NOCH KEINE GRUNDGESETZ-ÄNDERUNG
: Die Gefahr kommt von der Politik

Der geistig verwirrte Mann, der kürzlich mit einem gekaperten Segelflugzeug über Frankfurt kreiste, war kein Terrorist. Das Geschehen weist keine Parallelen zu Anschlägen islamistischer Gewalttäter auf – außer in einem einzigen Punkt: Die Gefahr kam aus der Luft. Der Missbrauch eines Flugzeuges als potenzielle Waffe genügte, um die Öffentlichkeit an die Verwundbarkeit eines Industriestaates zu erinnern. Dabei spielte es keine Rolle, dass der Schaden, der sich mit einem Segelflugzeug anrichten lässt, nicht mit dem eines Jumbo-Absturzes zu vergleichen ist. Im Kopf entstanden die Bilder aus New York. Das reicht für kollektive Ängste.

Wenn öffentliches Unbehagen entsteht, dann findet sich immer irgendein Politiker, der die Stimmung aufnimmt, um mit einer konkreten Forderung die eigene Tatkraft zu beweisen. Meistens ist es ein Hinterbänkler, der auf eine Zeitungsmeldung hofft. Dieses Mal nahm immerhin der Bundesverteidigungsminister den Vorfall in Frankfurt zum Anlass, eine Verfassungsänderung für erweiterte Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr nach innen zu verlangen.

Die Diskussion darüber war schon nach den Anschlägen vom 11. September entbrannt, als Minister Peter Struck sich mit sicherheitspolitischen Fragen noch wenig befasst hatte. Damals erteilten die Fachleute seiner Partei, aber auch viele Juristen und Politologen der entsprechenden Forderung eine klare Absage. Na und? Wenn sich die Stimmung in der Bevölkerung ändert, dann ändert sich auch der Standpunkt mancher Experten. Chancenlos ist Struck mit seinem Anliegen nicht, zumal es von Teilen der Opposition unterstützt wird.

Die seriöse Debatte hat mindestens zwei Ebenen: eine rechtlich-politische und eine pragmatische. In politischer Hinsicht bewegt sich die Diskussion im vertrauten Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit. Vollständige Freiheit kann es ebenso wenig geben wie vollständige Sicherheit. Vermutlich könnte die Aufhebung sämtlicher Datenschutzbestimmungen einige Verbrechen verhindern. Dennoch hat sich die Gesellschaft dafür entschieden, in dieser Hinsicht ein begrenztes Risiko in Kauf zu nehmen, weil sie den damit verbundenen Freiheitsrechten einen höheren Wert beimisst als der Gefahrenabwehr. In einer Demokratie beruht jedes Gesetz auf einer Güterabwägung.

Was aber gilt, wenn eine Bedrohung so umfassend ist, dass sie einen Staat in seiner Existenz gefährdet? Wenn nämlich der Luftangriff auf ein Atomkraftwerk für möglich gehalten werden muss? Derlei konkrete Fragen klingen sehr realitätsnah, aber sie sind es nicht. Das deutsche Hoheitsgebiet ist, geografisch betrachtet, sehr klein. Im Luftverkehr beträgt der Zeitraum zwischen der Erkenntnis einer Bedrohung und ihrer Abwehr allenfalls einige wenige Minuten.

Keine Verfassungsänderung könnte deutsche Abfangjäger ermächtigen, ein Passagierflugzeug über französischem Hoheitsgebiet abzuschießen, nur weil zu befürchten steht, dass sich die Maschine im Anflug auf Philippsburg befindet. Wer einen Terrorangriff auf ein Atomkraftwerk für eine reale Gefahr hält, muss dessen Abschaltung fordern, nicht die Erweiterung des Einsatzbereiches der Bundeswehr. Das ist unrealistisch? Ach so.

Bislang nehmen islamistische Terroristen übrigens keine Verhandlungen auf, was das Zeitfenster für Abwehr vergrößern würde. Aber ihre Anschläge kommen „aus heiterem Himmel“, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Das unterscheidet sie von den Luftpiraten der 70er-Jahre, die keine Verfassungsänderung bewirkt haben.

Zahlreiche Gefahren dürfen die Streitkräfte bereits jetzt abwehren, beispielsweise einen Angriff mit biologischen Waffen. Sowohl der Katastrophenschutz als auch der Verteidigungs- und Bündnisfall sind umfassend gesetzlich geregelt. Eine Änderung des Grundgesetzes als Reaktion auf terroristische Bedrohungen könnte, wenn überhaupt, nur in Verbindung mit einer Abkehr vom bisherigen Prinzip der Befehlskette sinnvoll sein.

Bislang können Militärs nie allein bestimmen, was sie für erforderlich halten. Sie brauchen entsprechende Weisungen der zivilen, also der politischen Seite. Eine Verfassungsänderung, die an diesem Grundsatz festhielte, wäre reine Kosmetik. Eine Verfassungsänderung, die daran nicht festhielte, bedeutete hingegen im Blick auf die prägenden Grundsätze unserer Zivilgesellschaft einen allzu hohen Preis. BETTINA GAUS