: Tendenz ruhig
Vor 70 Jahren: Die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in Deutschland im Spiegel der Hamburger Presse. Eine dreizehnteilige Serie der taz hamburg. Heute Teil 1: Einführung
von Heinz-Günter Hollein
„Tendenz ruhig“, meldete die Hamburger Getreidebörse. „Rundstückmehl hiesiger Mühlen“ notierte unverändert zwischen 28 1/2 und 29 1/2 Reichsmark „für 100 Kg brutto incl. Sack“. Alster und Elbe lagen unter Eis, die Grippe griff zwar noch um sich, schien aber mit 35 Opfern in der Vorwoche ihren Höhepunkt überschritten zu haben, in Altona waren im gleichen Zeitraum 718.110 Pfund frischer Seefisch angelandet worden. Die Bilanz hätte noch besser aussehen können, aber ein Hamburger Fischdampfer, die „Vaterland“, war vor Norwegen auf eine Klippe gelaufen und mit seinem ganzen Fang gesunken.
Auch das Staatsschiff war mal wieder in unruhigen Gewässern. Die Reichsregierung unter der Kanzlerschaft des Reichswehrgenerals Kurt von Schleicher, die zwanzigste in 14 Jahren Weimarer Republik und erst seit dem 3.12. 1932 im Amt, stand bereits wieder zur Disposition. Schleicher hatte mit Intrigen seine Vorgänger Brüning und von Papen gestürzt. Jetzt optierte Schleicher für eine Koalition mit den Nationalsozialisten, in der Adolf Hitler „unter ihm“ – als Chef der Reichswehr – Kanzler werden sollte. Hitler lehnte ab. Damit war der Ball wieder bei Schleicher, dessen Vertrauenskonto bei seinen bürgerlichen politischen Mitspielern nunmehr endgültig aufgezehrt war.
Das Vertrauen des greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg hatte allenfalls noch „der Herrenreiter“ Franz von Papen, ein klassischer Vertreter des erzkonservativen preußischen Junkertums. Mit seiner „7-Prozent-Partei“, dem katholischen Zentrum, war er allerdings alles andere als mehrheitsfähig. Dann war da noch Alfred Hugenberg, der Medienzar, zu dessen Imperium die UFA-Filmproduktion, zahlreiche Tageszeitungen und eine Nachrichtenagentur gehörten. Er hatte 1931 die „Harzburger Front“ aus Deutschnationalen, Großindustriellen und NSDAP gegen die Regierung Brüning geschmiedet und glaubte wie Schleicher, in einem Kabinett Hitler die Nazis „einmauern“ zu können.
Auch in Hamburg war die Regierung bestenfalls noch geschäftsführend im Amt. Bei den vorgezogenen Neuwahlen zur Bürgerschaft am 24. April 1932 war die NSDAP mit 51 von 160 Sitzen zur stärksten Fraktion geworden und drängte auf eine Beteiligung am Senat. Die Regierungskoalition aus SPD und liberaler Deutscher Demokratischer Partei (DDP) verfügte mit 67 Abgeordneten allenfalls noch über eine Sperrminorität, die von der Stimmenthaltung seitens der KPD (26 Sitze) abhing. Erst kürzlich war die Deutschnationale Volkspartei (DNVP, 7 Sitze) mit ihrem Vorstoß zur Bildung eines Rechts-Senates zusammen mit NSDAP, Deutscher Volkspartei (DVP), Wirtschaftspartei und DDP am Veto des Regierenden Bürgermeisters Carl Petersen (DDP) gescheitert.
Der eigentliche Kampf um die Macht aber wurde auf der Straße ausgetragen, und er war blutig. Bei Begegnungen zwischen SA-Männern, den ultrarechten Veteranen des „Stahlhelm“, Rotfrontkämpfern der KPD, Angehörigen der Eisernen Front (SPD, Gewerkschaften, Reichsbanner und Arbeitersportlern) und der Polizei saßen nicht nur Fäuste und Gummiknüppel locker. 29 Menschen waren seit 1928 in Hamburg bei politisch motivierten Auseinandersetzungen erschossen oder erstochen worden: beim Plakatkleben, beim Flugblattverteilen, bei Auflösung einer Versammlung oder als Unbeteiligte. Dies war nur die Hamburger Statistik. Opfer in Harburg, Wandsbek oder Steilshoop schlugen im Land Preußen zu Buche; den traurigen Rekord mit 18 Toten an einem einzigen Tag verzeichnete am 17. Juli 1932, dem „Blutsonntag“, das schleswig-holsteinische Altona.
Noch war die Hansestadt nicht das Groß-Hamburg von 1937 (und heute). 1,137 Millionen Einwohner zählte die Stadt 1933, fast jeder Vierte bezog „Stütze“ von der Wohlfahrtsbehörde, deren Aufwendungen ein Drittel des Haushalts verschlangen. 164.359 Hamburger im erwerbsfähigen Alter waren ohne Arbeit, eine Quote von fast 40 Prozent.
Ein Panorama dieser Ereignisse – mal blutig, mal bizarr, mal banal – bietet die Hamburger Presselandschaft jener Tage und Wochen vor und nach der „Machtergreifung“. Ausführlich und in einigen Fällen in zwei Ausgaben täglich berichteten: das Hamburger Tageblatt, das Altonaer Tageblatt (beide NSDAP) und die Hamburger Nachrichten (NSDAP-nah) sowie der Hamburgische Korrespondent (bürgerlich-rechts). Der Vater von Axel Springer war Verleger dreier liberaler Tageszeitungen: Hamburger Fremdenblatt (Vorläufer des jetzigen Hamburger Abendblatt), Hamburger Anzeiger und Altonaer Nachrichten. Außerdem erscheinen das Hamburger Echo (SPD) und die Hamburger Volkszeitung (KPD).
Die Berichte der Hamburger Tagespresse vom 27. Januar bis zum 7. Februar 1933 sind die Grundlage für eine – durchaus subjektive – Chronik dieser Zeit in der taz hamburg. Die Serie läuft über zwei Wochen und startet am Montag mit Berichten über einen Tag in Hamburg vor 70 Jahren: der 27. Januar 1933.
Am Montag Teil 2: Freitag, der 27. Januar 1933