: Wenn sanfte Projekte versanden
Wandern auf alten Säumerpfaden war eine Idee des Projekts „Landschaft des Jahres 1995/96 – Region Furka – Grimsel –Susten“. Heute spricht niemand mehr davon, es fehlt an Werbung und Betreuung. Wo bleibt die Nachhaltigkeit?
von GERHARD FITZTHUM
Der Höhenmesser zeigt 1.400 Meter, die Vegetation wird spärlicher, und der Weg beginnt sich immer deutlicher aus dem Gelände zu schälen: Er besteht aus sorgfältig aneinander gefügten Steinplatten, die bis zu ein Quadratmeter groß sind, an einer Stelle sind sogar regelrechte Treppenstufen in die Felsen gemeißelt. Als Wanderer ist man überrascht – einen solchen Service hätte man an diesem Ende der Welt nicht erwartet. Doch nicht für unsereins, sondern für die arbeitende Bevölkerung ist der Weg durch das Haslital seinerzeit angelegt worden. Bis Ende des 19. Jahrhunderts stiegen hier Säumer mit ihren schwer beladenen Bergpferden oder Maultieren zum Grimselpass auf, um über das Wallis weiter nach Italien zu ziehen. In einem 1397 abgeschlossenen Vertrag hatten die zwischen Bern und Mailand liegenden Städte und Talschaften für ihre Wegstücke die volle Verantwortung übernommen. Damit die Saumtiere bei Nässe oder Schnee nicht vom glatten Felsen in die Tiefe stürzten, schlug man ihnen an den Schlüsselstellen Rillen und Stufen in den Granit. Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Eisenbahntunnel durch den Gotthard eröffnet, und der Saumpfad fiel dem Vergessen anheim.
Die Reisenden wählten im Haslital nun das neue Postkutschensträßchen am Gegenhang, das sich inzwischen in eine breite Asphaltpiste verwandelt hat. Doch plötzlich, vor zehn Jahren, deutete sich eine zweite Blüte des alten Handelswegs an – als Vorzeigeprojekt des sanften Tourismus. Es begann mit einer „Schoggitaler-Aktion“ des Schweizer Heimatschutzes, bei der landesweit für die Restaurierung des alten Grimselwegs gesammelt wurde. Dann kam die Naturfreunde-Internationale und erklärte neben dem österreichischen Lesachtal auch die Passregion von Furka, Grimsel und Susten zur Landschaft des Jahres 1995/96.
Nun restaurierte man weitere Teilstücke des Grimselwegs, gab eine Wanderkarte und das Wander- und Lesebuch „Pässespaziergang“ heraus, das vorbildlich in Vergangenheit und Gegenwart dieses inneralpinen Lebensraums einführt. Das Repertoire alpenquerenden Kulturwanderungen war um eine attraktive Variante reicher geworden, ohne dass man neue Wege anlegen und Hotels oder Hütten bauen musste – einfach nur durch Ausgrabung und Ausbesserung der historischen Trassen und professionelle Beschreibung.
Der Zulauf an Wanderern war zwar da, hielt sich und hält sich aber noch heute in Grenzen. Touren auf historischen Passwegen liegen zwar nach wie vor im Trend, aber viele Passwanderer scheuen es, verkehrsmäßig so erschlossene Kulturräume wie das Furka-, Susten- und Grimselpassgebiet zu durchmessen. Auf der Suche nach unverdorbener Natur ohne Lärm und Abgase pflegt auch der naturbewusste Berggänger erst mal bis zum talobersten Parkplatz hinaufzufahren. Beim Aufstieg durch das Haslital wird man also nicht nur von der Motorsportfraktion und der Cabrio-Schickeria beschallt, sondern auch von jenen sanften Touristen, die eigentlich nur zu Fuß unterwegs sein wollen – nur hier noch nicht. Als größtes Hindernis erwies sich freilich die fehlende lokale Anbindung – das typische Dilemma bei ökologischem und sozialverträglichem Tourismus – Ansätzen, die praktisch ausnahmslos in fernen Städten ausgebrütet werden.
Die Hoteliers und Gastronomen waren auf motorisierten Ausflugsverkehr kapriziert und an ein paar rucksackschleppenden Fußgängern nicht sonderlich interessiert. Offensichtliche Mängel des alternativen Angebots wurden nicht wahrgenommen. Keine hundert Meter vom Tummelplatz der Passhöhe entfernt wird der alte Säumerweg seit Jahren von abfließendem Regenwasser über- und unterspült. Doch niemand kam auf die Idee, einen kleinen Abzugsgraben zu ziehen – geschweige denn nach einer Alternative für die zwei Kilometer lange Strecke zu suchen, auf der der Wanderer direkt auf der Straße gehen muss.
Auch auf politischer Ebene gab es kaum Rückhalt, besonders auf der Walliser Seite. Die Naturfreunde hatten hier ein Planungskonzept für die Restaurierung des Wegs zum Griespass finanziert, der mit der Grimselroute einst eine Transiteinheit bildete. Erklärte Absicht war es, eine Stiftung „Passweg Grimsel–Gries–Pomatt“ ins Leben zu rufen, um die Lücken der Begehbarkeit zu schließen und besonders wertvolle Teilstücke zu sanieren, damit sie der Nachwelt als „historische Fenster“ erhalten blieben. Die Gesamtkosten von etwa 820.000 Franken hätten vom Bund, dem Kanton Wallis, den betroffenen Gemeinden und verschiedenen Förderinstitutionen aufgebracht werden sollen. Doch vor Ort konnte man sich über Vorsitz und Vorgehen dieser Stiftung nicht einigen und ließ den detaillierten Vorentwurf in der Schublade verschwinden.
Kein Wunder, dass die Schweizer Naturfreunde die Lust verloren, sich in der Region weiter zu engagieren. Zudem zeigte sich das grundsätzliche Problem projektbezogener Initiativen: Mit dem Auslaufen der Projektgelder verstreuen sich die MitarbeiterInnen in alle Himmelsrichtungen. So kennen die heute im Berner Büro sitzenden Naturfreunde die Initiativen zur „Landschaft des Jahres 1995/96“ nur noch vom Hörensagen. Das ehedem ehrgeizige Projekt ist längst sich selbst überlassen und dümpelt vor sich hin.
Das heißt allerdings nicht, dass alle Mühen umsonst waren. Das Projekt gab immerhin die Initialzündung für die Realisierung des „Kulturwegs Alpen“, der einen neuen Boom kulturbezogener Fernwanderwege ausgelöst hat. Aber auch vor Ort ist das Engagement der Naturfreunde nicht ganz folgenlos geblieben. Lokale Initiativen haben zwar eher zufälligen Charakter, aber es gibt sie. Zum Beispiel organisiert ein Zusammenschluss einzelner Touristiker und Gewerbetreibender in diesem Jahr ein so genanntes Säumerfest, eine sechstägige Wanderung auf dem alten Handelsweg.
Auch im Wallis ist man inzwischen aus dem Tiefschlaf erwacht. Die Gemeinde Obergesteln jedenfalls reagierte auf die zahlreichen Beschwerden der Pässewanderer und baute im Ägenetal die überfällige Hängebrücke, die die Wanderer von der Passstraße wegbringt. Eine gewisse Wirkung lässt sich selbst im italienischen Teil des Säumerwegs ausmachen, wo man ansonsten rein gar nichts für das Projekt tat. Das legendäre Albergo Cascata scheint durch die neue Präsenz der Kulturwanderer jedenfalls erst einmal vor dem Untergang gerettet. Gefährdet war das faszinierende Belle-Époque-Etablissement, weil es über Jahrzehnte von den Staudammbetreibern als Arbeiterunterkunft zweckentfremdet worden war und es längst keinen internationalen Serviceansprüchen mehr genügte. Im Unterschied zum typischen Gast des Formazza, dem Ausflügler aus Mailand oder Turin, sind die aus der Schweiz herüberkommenden Passwanderer in Sachen Komfort ziemlich belastbar. Auf den Spuren der Geschichte unterwegs, ist ihnen der Aufenthalt in der einmalig schönen Bar und den vorsichtig renovierten Jugendstilsälen des Parterre ein Hochgenuss, für den die abgehalfterten Zimmer gern in Kauf genommen werden.
Durch die neuerliche Inwertsetzung des Hotels erhöht sich jetzt wiederum der Druck auf den italienischen Stromkonzern Enel, der dem Tourismus im Tal seit Jahrzehnten großen Schaden zufügt. Hauptattraktion und Existenzgrundlage des Albergo war nämlich die direkt vor dem Haus über die Felsen schäumende Cascata del Toce, die nicht zu Unrecht als schönster Wasserfall der Alpen galt. Seit 65 Jahren wird das Wasser des Toce nun schon zur Stromgewinnung über Druckleitungen an den Felsen vorbeigeführt, sodass dort nur ein klägliches Rinnsal übrig bleibt. Nur zwei Wochen im August und ein paar Stunden in der Woche während der anderen Sommermonate öffnen sich die Hähne des Morasco-Staudamms, und man versteht, warum sich Richard Wagner seinerzeit für die gefährlichere Reiseroute über Grimsel und Gries entschied.
Nicht zuletzt durch seine Nachfahren, die mit schweren Rucksäcken über den Griespass kommenden Wanderer, sieht man vor Ort jetzt die Chance für eine zweite touristische Karriere des Tals, die aus der einseitigen Abhängigkeit von den Stromkonzernen herausführen könnte. So beginnt das Säumerwegprojekt trotz fehlender Werbung und Betreuung einen positiven Einfluss auf die Regionalentwicklung zu haben. Vorüber ist damit die Zeit der offiziellen Geringschätzung und Ironisierung alternativer Angebote, die sich der Nachhaltigkeit verpflichten.
Die Projekte aus dem Spektrum der Alpenschützer werden nicht länger als Umsturzversuche betrachtet, sondern als sinnvolle Ergänzung des klassischen Tourismusangebots, dessen beste Zeiten ohnehin vorbei sind. Das ist zwar nicht der Durchbruch des sanften Tourismus, aber es ist auch nicht nichts.
Info: www.saeumerfest.ch; Anmeldungen für die Wanderung vom 18. bis 24. 8. 03 unter +41-4 16 10 88 33, Fax -6 10 88 66; geführte Wanderungen bietet auch Tra Cultura E Natura an: Hainstraße 2, D-35457 Lollar, (0 64 06) 7 43 63, Fax -83 01 70