: Stiefkinder mit Hyperaktivitätssyndrom
Bremens Bibliotheken sind schlecht ausgestattet, aber äußerst rege – wie bei „Deutschland liest“ zu erleben sein wird
Der Landesverband der Bremer Bibliotheken gilt bundesweit als einer der aktivsten. Das sagt dessen Vorsitzender Herbert Kubicek, im Hauptberuf Informatiker an der Bremer Universität. Aber auch die nackten Zahlen können sich hören lassen: Etwa 120 öffentlich zugängliche Bibliotheken gibt es im kleinsten Bundesland, von der Biblioteca Gonzalo Rojasek im Instituto Cervantes über das Archiv für Drogenliteratur (ARCHIDO) an der Universität bis zum „Dokumentationszentrum für Europäische Gewerkschaftspublikationen“ in der Parkallee. Bei der am 24. Oktober beginnenden bundesweiten „Bibliothekswoche“ beteiligen sich zwar nur 19 Bremer und Bremerhavener Einrichtungen. Die aber tragen zu „Deutschland liest“ deutlich mehr Veranstaltungen bei als beispielsweise die Hamburger. Auch in absoluten Zahlen.
Nun mag man vom Bundespräsidenten oder Dieter Bohlen angeführte Aktionen leid sein, die „Deutschland“ als handelndes Subjekt behaupten. Aber immerhin „sucht“ „Deutschland“ in diesem Fall nichts, konkret bietet die Aktionswoche den BremerInnen 61 Gelegenheiten, sich auf ungewohnte Weise in ihren Bibliotheken zu tummeln. Es gibt eine Gespensternacht in der Krimibibliothek, Zeichenworkshops mit einer Kinderbuchillustratorin, die Rap-Veranstaltung „Rhythm is it“, diverse Ausstellungen oder den Vortrag „Lesen bis der Arzt kommt“ – über Wartezimmerliteratur.
Bremens älteste noch existierende Bibliothek ist die der Handelskammer. Ihre Bestände reichen bis ins 16. Jahrhundert zurück, unter anderem sind hier sämtliche Bremer Tageszeitungen seit 1829 komplett im Original einsehbar. Auch die Staats- und Universitätsbibliothek verweist gern auf ihre ererbten Bestände: Zu diesem Zweck organisiert sie eine Buch-Auktion mit Prominenten, deren Erlös der Restaurierung ihrer mittelalterlichen Manessischen Lieder-Handschrift zu Gute kommt. Freilich verschiebt sich die Relevanz immer mehr in Richtung elektronischer Medien: Während die Ausleihquote bei Printprodukten im vergangenen Jahr um fünf Prozent gestiegen sei, sagt Direktorin Maria Elisabeth Müller, habe es bei elektronischen Medien einen drei Mal so großen Zuwachs gegeben. Knapp 1,5 Millionen physischen Bibliotheksbesuchern stünden jährlich 3,3 Millionen Virtuelle gegenüber.
Die Bibliothek des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts für Polarforschung hat mit Beginn des Jahres das Abonnement fast aller gedruckten Zeitschriften gekündigt – ein besonders im wissenschaftlichen Bereich starker Trend. Allerdings koste auch das jährliche Zugangs-Abo zu großen Datenbanken bis zu 30.000 Euro, sagt Bibliotheksleiter Marcel Brannemann. Gemeinsam ist allen Bibliotheken das Problem, dass die aktuelle Urheberrechtsnovelle eine Zahlungspflicht für elektronische Datenvervielfältigung vorsieht – analog zur der aus dem Papiersektor bekannten „Kopierabgabe“. Zum Ende des Jahres läuft der Ausnahmeparagraf aus, der den Wissenschafts- und Kunstbereich bislang verschonte. Auch elektronische Semesterapparate werden dann teuer.
Trotz aller Schwierigkeiten als „Stiefkind der Kulturpolitik“, wie Ulf-Thomas Lesle vom ebenfalls beteiligten Institut für Niederdeutsche Sprache die Bibliotheken nennt: Hinter den Kulissen bereitet der Landesverband schon seinen nächsten Coup vor: Kommendes Jahr soll der internetgestützte Regional-Katalog fertig werden. Erstmals sind dann sämtliche Bremer Bibliotheksbestände von einer Datenbank erfasst. Henning Bleyl
Programm: www.dbv-bremen.de