Arbeit an der Tonspur

Popmusik ist ein Wegwerfprodukt, vermag aber fast alles im Leben: Nick Hornby erzählt in seinem Essayband „31 Songs“ von seiner Liebe zum Pop und der großen, magischen Kraft der drei Minuten

von GERRIT BARTELS

Wer glaubt, mit seinem Popmusikgeschmack noch Punkte machen zu müssen, könnte mit diesem Buch Probleme bekommen. Zumindest, wenn er sich nur durch die Seiten blättert und die Interpreten anschaut, die Nick Hornby für seinen Essayband „31 Songs“ ausgewählt hat: Bruce Springsteen, Santana, Led Zeppelin, Rod Stewart oder Bob Dylan – das ist auf den ersten Blick harter Tobak, da braucht man nicht mal so viel jünger als Nick Hornby zu sein, vielleicht ein Jahrzehnt, und da könnte man sich sogar an einer Hornby-Figur wie dem Plattenladenbesitzer Rob Fleming ein Beispiel nehmen, um aufzustöhnen und das Buch ungelesen in die Ecke zu werfen. Wo sind Velvet Underground? Oder wenigstens Yo La Tengo? Oder Massive Attack?

So viel Borniertheit aber wäre ein Fehler, denn selbst „Pop-Snobs“, wie Hornby sie nennt, dürften sich in vielen Kapiteln dieses Buches wiederfinden. Nick Hornby will mit seinen 31 Stücken niemand eines Besseren belehren, diese nicht bis ins kleinste Detail erläutern und schon gar keinen Kanon aufstellen. Für ihn ist jeder Song lediglich Anlass, seine Begeisterung für die Popmusik zu bekunden. Er möchte darüber schreiben, „was in diesen Stücken steckt, das mich dazu gebracht hat, sie zu lieben, nicht darüber, was ich in diese Songs hineingehört habe“.

Die ungleich besseren Tonspuren des Lebens, die, weil in einem locker plaudernden Erzählton gehalten, viel von einer Autobiografie haben: Nick Hornby erzählt von seiner gescheiterten Ehe (Ben Folds Five), von seinem autistischen Sohn Danny (Gregory Isaacs), von seinem ersten, lang ersehnten Besuch in Amerika (J. Geils Band) und auch von seinem Leben als Erfolgsschriftsteller, dessen Bücher verfilmt werden (Badly Drawn Boy), der nach ihren autobiografischen Momenten befragt wird (Butch Hancock) oder der plötzlich nicht mehr originell ist, sondern nur noch Klischees auf Lager hat (Bruce Springsteen).

Mehr aber noch schlägt jeder der 31 Songs eine kleine Melodie an, die sich mit den unterschiedlichsten Facetten der Popmusik beschäftigt: Gott (Rufus Wainwright), Sex (Santana), Tanzen (The Velvelettes), Tod (Van Morrison), Arbeit und Kunst (Bruce Springsteen, Patti Smith), Bob Dylan (Bob Dylan) oder der Plattenladen (Mark Mulcahy).

Es geht also um die Pop-Essentials, in denen gleichzeitig das ganze Leben mitschwingt; um die große, magische Kraft der drei Minuten, die nicht selten schnell aufgebraucht, sozusagen „geknackt“ ist. Denn Hornby weiß nur zu gut: Popmusik ist ein Wegwerfprodukt. Weshalb er aber nicht in Depressionen oder, schlimmer, in düsteren Kulturpessimismus verfällt – ganz im Gegenteil: Für ihn liegt die Stärke der Popmusik und ihre Reife gerade darin, dass sie genau um diesen Wegwerfcharakter weiß.

Hornby ist in „31 Songs“ weniger der euphorisch-staunende Junge und Nerd als vielmehr ein entspannter, weiser Mann in mittleren Lebensjahren. Der einerseits mit einer gewissen Atemlosigkeit erzählt – immer gibt es noch eine Begebenheit oder noch einen Einfall, die er in zahllosen Klammern im Text unterbringt. Der andererseits aber sein Alter, mal 44 Jahre, mal 45, oft und manchmal etwas aufdringlich betont. So fordert er einmal ganz bieder Zufriedenheit und Sicherheit von einem guten Popsong ein und betont, keinen avancierten Krach wie den von Suicide mehr hören zu müssen, wenn er doch „geballte Ladungen byrdsmäßigen Pop“ von Teenage Fanclub bekommen kann, „voller Sonnenschein, Hooks, Harmonien und gutem Willen“. Ja, das Leben ist hart genug, können doch Flugzeuge ins eigene Heim reinfahren oder AKWs in die Luft gehen! Hornby ist ein Biedermann, und er ist es anscheinend nicht ungern.

Er ist dann aber wieder der große Versteher, der sich selbst noch als snobistischen Jugendlichen vor Augen hat (Punk statt Jackson Browne!), ohne sich von dem Typ, der er mal war, zu distanzieren. Einer, der seine Popmusik unbedingt vor irgendwelchen ignoranten Freunden in Schutz nehmen muss, hören sie nun Klassik oder House; und der jedes Kid verstehen kann, das sich für Metal, HipHop oder Alec Empire interessiert: Popmusik, die in Peugeot-Werbespots oder aus den Boxen der Starbuck’s-Filialen zu wirklich jedem spricht, ist jungen Menschen keine große Hilfe, um bei den möglicherweise gar popmusikalisch geschulten Eltern gegenüber Distinktionsgewinne einzufahren, um die eigene Individualität zu entdecken, um zu reifen.

Am Ende findet man ihn auf einem Konzert von Patti Smith wieder, von dem er sich nicht viel erwartet, das aber noch mal Gelegenheit bietet, Popmusik in ihrer ganzen Universalität darzustellen. Hornby schätzt Patti Smith für ihr unerschüttliches Künstlertum, „ihren unstillbaren Hunger“ nach Kunst, Musik und Literatur, vulgo: Hochkultur. Richtig bekommen tut sie ihn aber vor allem mit einem Stück, das ihm bislang nicht weiter aufgefallen ist oder beeindruckt hat: „Pissing In The River“. Ein Stück, das nur aus Gitarrenakkorden, Refrain und Pose besteht und ihn dankbar sein lässt für die Musik, die Bücher und das Leben: für das, was er daran schon hatte, und für das, was noch vor ihm liegt.

Das ist einer der schönsten Momente in seinem Buch, ein Moment, der ihn zu dem viel sagenden, alles offen lassenden Schlussakkord verleitet: „Anders gesagt, es ist ein Popsong, und wie viele andere Popsongs vermag er nahezu alles.“ Da braucht es gar nicht mehr die Liste mit seinen Lieblingsliedern 2002, um zu wissen, dass Hornby niemals aufhören wird, Popmusik zu hören und zu lieben.

Nick Hornby: „31 Songs“. Deutsch von Clara Drechsler und Harald Hellmann, Kiepenheuer & Witsch, 160 S., 15,90 €