: Mao revisited
Jonathan D. Spence’ biografischer Essay über den Großen Vorsitzenden ist eine zwar einseitige, aber äußerst nützliche Einführung
von CHRISTIAN SEMLER
Der Sinologe Jonathan D. Spence hat das deutsche Publikum bislang vor allem mit zwei Publikationen erfreut: einer grundgelehrten, 500 Jahre umspannenden Abhandlung über Chinas Weg in die Moderne, die in vorsichtigem Optimismus endet. Und das subtile Biografien-Netzwerk „Das Tor des Himmlischen Friedens“, das von dem revolutionären chinesischen Jahrhundert bis 1980 handelt. Dieses Werk stimmt einen tief traurig angesichts des damaligen Schicksals so vieler hochgestimmter Intellektueller. Jetzt liegt in deutscher Übersetzung die 1999 erschienene Biografie „Mao“ vor, ein einführender Essay, der keineswegs nur zum Gebrauch von Spezialisten bestimmt ist, die dem Großen Vorsitzenden in Liebe oder in Hass verbunden sind.
Das gut lesbare, dabei erfreulicherweise nur 256 Seiten lange Bändchen versucht sich gar nicht erst in dem Unterfangen, ein abgewogenes Bild Maos zu entwerfen. Für Spence gleicht Mao jenem „Herrn der Misswirtschaft“, der im mittelalterlichen Europa zu einigen Feiertagen des Jahres inthronisiert wurde, um die gewohnte Ordnung umzustürzen – und dadurch gleichzeitig zu bestätigen. Zum Unglück Chinas, so Spence, wütete das Chaos unter Maos Leitung mehrere Jahrzehnte.
Der Essay verleugnet nicht den Quellenwert wissenschaftlicher und journalistischer Mao-Biografien früherer Zeit, von Edgar Snows „Red Star over China“, einer Interview-Serie mit Mao, dem Höhlenbewohner, aus der Yennan-Periode, bis hin zu Stuart Schramms großer Biografie aus den 60er-Jahren, die bereits damals von den linksradikalen Studis verschlungen wurde.
Diesen Grundstock reichert Spence an mit Quelleneditionen, Memoiren und Einzelwerken, die seit den 80er-Jahren sei es in China, sei es vor allem in den USA veröffentlicht wurden. Dank Spence kann auch der Nichtspezialist die verschlungene Familiengeschichte der Maos nachlesen, wichtiger noch wird ihm der intellektuelle Pfad des Vorsitzenden erschlossen: die frühe Bekanntschaft mit dem Neukantianismus, die klassische Bildung im Lehrerseminar zu Changsha, die erste Berührung mit dem Marxismus im Studienzirkel an Pekings Universität, wo Mao als Hilfsbibliothekar arbeitete und viele spätere Weggenossen kennen lernte.
Obwohl Spence die Originalität und den Faktenreichtum der Untersuchungen Maos aus den 20er- und 30er-Jahren anerkennt, spürt man bei der Lektüre das Bestreben des Biografen, Mao als halbgebildet, als Möchtegern-Intellektuellen abzuqualifizieren. Wenn man Spence beim Wort nimmt, taugte der Vorsitzende eigentlich nur als Organisator und Buchhalter, vielleicht noch als passabler Lyriker. Da, wie Spence meint, die Dialektik den Chinesen von Alters her quasi im Blut liegt, werden Maos Thesen zum Widerspruch, mehr noch die Anwendung dieser Thesen auf die Wirklichkeit Chinas, nicht in angemessener Weise dargestellt und gewürdigt. Dieses Versäumnis trifft erst recht auf Mao als Militärstrategen zu.
Zu Recht hebt Spence den Voluntarismus, die zunehmende Realitätsferne, die vollständige menschliche Bedenkenlosigkeit hervor, die Maos letzten beiden Lebensjahrzehnte vom „Großen Sprung“ bis zur Kulturrevolution kennzeichneten. Hier ist der Ort der Entmystifizierung, und Spence leistet ganze Arbeit. Allerdings gerät dabei das Kernproblem aus dem Blickfeld des Biografen: Wie kann angesichts bürokratischer Großstrukturen in Partei und Staat der revolutionäre Funke erhalten werden?
Spence widmet Maos Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Modell keine Aufmerksamkeit. Es wird nicht deutlich, was Mao unter der „Massenlinie“ gegenüber dem Stalin’schen „Die Kader entscheiden alles!“ verstand. Spence verwendet viel Mühe darauf, Maos zunehmendes Misstrauen gegen die Intellektuellen in Partei und Staat als Ausdruck eines Minderwertigkeitskomplexes zu dechiffrieren. Wie er auch das Bekenntnis zur spontanen Intelligenz der bäuerlichen Massen als Frontstellung gegenüber den privilegierten Bildungsschichten begreift. Natürlich war Mao Antikonfuzianer. Er rebellierte Zeit seines Lebens gegen die Kindespietät, gegen die Riten und gegen die Vormacht der Gelehrten. Aber diese Opposition war auch gegen die herrschenden Schichten in Sowjetstaat und gegen die einheimischen „revisionistischen Machthaber“ gerichtet. Das war die reale Grundlage des utopischen Gleichheitsprojekts. Da Spence an dem sowjetisch-chinesischen Gegensatz nicht sonderlich interessiert ist, berücksichtigt er auch nicht die zeitgenössische sowjetische Sicht auf Mao.
Immerhin verfällt Spence nicht in das konventionelle Deutungsschema, die Kulturrevolution als abgefeimtes Manöver in einem Machtpoker darzustellen. Diese Massenbewegung verlief ungeplant, chaotisch und blutig. Sie fügte dem Land und den Menschen entsetzliche Verluste zu. Spence bilanziert das, ohne aber hinreichend auf die ideologischen Grundlagen des Großversuchs bei lebendigem Leib einzugehen. Den Einwänden des exmaoistischen Rezensenten zum Trotz bildet das Buch eine exzellente Einführung und sei zähneknirschend empfohlen.
Jonathan D. Spence: „Mao“. Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck. Claassen Verlag, München 2003, 256 S., 12 €