: „Die Armen werden nicht ärmer, aber es werden immer mehr“, sagt Meinhard Miegel
Die Aufsteiger aus den unteren Milieus sind vom Abbau der Sozialleistungen am härtesten betroffen
taz: Herr Miegel, für den Arbeitsmarkt werden nur geringe Verbesserungen vorhergesagt, gleichzeitig kürzt die Politik bei den Sozialleistungen. Müssen wir uns damit abfinden, dass nach wie vor Millionen Menschen in Deutschland ohne Job und mit niedrigem Einkommen leben müssen?
Meinhard Miegel: Ja, so lange wir krampfhaft an Strukturen festzuhalten versuchen, die es so nicht mehr gibt. Noch in den Sechziger- und Siebzigerjahren hatten wir gegenüber anderen Volkswirtschaften einen großen Wettbewerbsvorsprung, der eine Vielzahl gut bezahlter Arbeitsplätze ermöglichte. Dieser Vorsprung ist weithin verlogen gegangen, und jetzt besteht sogar die Gefahr, dass wir langsam, aber sicher von unserem erreichten hohen Niveau bei Erwerbseinkommen und sozialer Sicherung herabgleiten.
Die Gewerkschaften beklagen, dass zunehmend Löhne gezahlt werden, die nicht mehr existenzssichernd sind, Hilfskräfte im Einzelhandel beispielsweise verdienen mancherorts nur 5,50 Euro die Stunde. Damit kommen die Beschäftigten kaum über den Sozialhilfesatz. Sind solche Löhne zu hoch oder zu niedrig?
Weder das eine noch das andere. Das Problem ist doch, dass der Sozialhilfesatz sich nicht an der wirtschaftlichen Wertschöpfung, sondern am sozial definierten Bedarf eines Menschen orientiert. Dennoch bildet er faktisch so etwas wie ein gesetzlich definiertes Mindesteinkommen. Und dieses Mindesteinkommen liegt in Deutschland im internationalen Vergleich recht hoch. Schon wenige Kilometer weiter östlich erreichen selbst qualifizierte Facharbeiter mit ihren Erwerbseinkommen nicht den deutschen Sozialhilfesatz.
Würde man die Sozialhilfe absenken, bekämen wir in Deutschland eine ganz neue Armutsdiskussion …
Diese Diskussion hat bereits begonnen. Denn viele Erwerbseinkommen und vor allem Renten schmelzen seit geraumer Zeit ab.
Bei welcher Einkommensgrenze fängt denn Armut Ihrer Meinung nach an?
Spätestens dann, wenn es existenziell wird, das heißt, wenn Menschen hungern, frieren, sich nicht kleiden können oder keine Bildungschancen haben. Von einer solchen existenziellen Armut sind wir in Deutschland aber weit entfernt. Im Übrigen ist Armut relativ.
In Berlin gibt es einen politischen Streit, weil sich Sozialhilfeempfänger das U-Bahn-Fahren nicht leisten können. Und Kinder gering verdienender Eltern können beispielsweise im Winter mit ihren Spielkameraden nicht mit auf die Eisbahn, weil es zu teuer ist. Fängt Armut nicht mit Ausschluss an?
Das ist wieder so ein Begriff. Wo fängt „Ausschluss“ an? Der eine fühlt sich bereits ausgeschlossen, wenn er keine Markenartikel mehr kaufen kann, dem anderen ist dies völlig egal. Vergessen wir nicht, die Kaufkraft eines heutigen Sozialhilfehaushalts ist genauso hoch wie die eines durchschnittlichen Arbeitnehmerhaushalts Mitte der Sechzigerjahre.
Das bedeutete in den 60er-Jahren aber keinen Ausschluss, denn damals hatten alle weniger Kaufkraft zur Verfügung.
Das ist richtig. Doch haben wir nach Dänemark das zweithöchste Sozialhilfeniveau in der Welt. Franzosen, Briten oder Spanier versorgen – gemessen an ihren Einkommensniveaus – ihre Sozialhilfeempfänger deutlich schlechter. Trotzdem ist man in diesen Ländern nicht der Auffassung, dass die Armen dadurch gesellschaftlich ausgeschlossen seien.
Politiker fordern von den Arbeitslosen, mehr „Eigenverantwortung“ zu übernehmen. Das wird angesichts des Stellenabbaus von vielen Jobsuchenden als zynisch empfunden.
Das ändert nichts daran, dass die Eigenverantwortung wächst, weil der Staat die einmal gegebenen Versprechen für Transferleistungen ganz einfach nicht mehr einhalten kann oder genaue: Die große Mehrheit der Bevölkerung, keineswegs nur die Reichen, wehren sich gegen steigende Abgabenlasten. Sie erklären unumwunden: Diese Lasten sind uns zu hoch. Deshalb gehen sie massenhaft in die Schwarzarbeit oder hinterziehen Steuern.
Viele Bürger auch in mittelschichtigen Milieus haben aber Angst, durch die Kürzung der Sozialleistungen selbst abzusacken, weil etwa die Arbeitslosenhilfe abgesenkt und Lebensversicherungen aufgelöst werden müssen, wenn man lange ohne Job ist.
Es ist zutreffend, dass die Aufsteiger aus den unteren Milieus vom Abbau der Sozialleistungen am härtesten betroffen werden. Ich denke an Facharbeiter oder wenig verdienende Angestellte. Die müssen jetzt befürchten, in das wirtschaftlich schwächste Bevölkerungssegment abzurutschen – eine Entwicklung, die in den USA oder Großbritannien schon deutlich zu erkennen ist.
Das würde bedeuten, die Armen sind gar nicht so arm dran mit der Agenda 2010, sondern vor allem die unteren Mittelschichten sind betroffen?
So ist es. Für die wirtschaftlich Schwächsten ändert sich durch die Reformen wenig. Wer nur einen Rentenanspruch auf Sozialhilfeniveau hat, dem kann im Alter kaum etwas passieren. Denn wenn diese Rente sinkt, bekommt er Grundsicherung. Das Problem ist nicht so sehr, dass die Armen ärmer werden, das Problem ist, dass ihre Zahl in den kommenden Jahren größer wird.
INTERVIEW: BARBARA DRIBBUSCH