Sarajevo in Schöneiche

Seitdem bei Friedenseinsätzen mehr zivile als militärische Kräfte ums Leben kommen, wird endlich auch auf die Ausbildung der Friedenshelfer Wert gelegt. In zweiwöchigen Seminaren werden potenzielle Teilnehmer für ihre Aufgaben als Wahlbeobachter oder Berater qualifiziert – zum Beispiel im brandenburgischen Städtchen Schöneiche bei Berlin. Eine Reportage

von ANETT KELLER

Golf One, this is India Two“, meldet sich Susana per Funkgerät. „Ich habe einen Flüchtlingstreck gesehen. Sie gehen auf der J 67 nach Süden und werden bald die Grenze überqueren, Ende.“ Nachdem Susana ihre Meldung abgesetzt hat, gehen sie und Silke wieder auf Empfang. „India Two, this is Golf One“, schnarrt es zurück: „Es gab eine Explosion, wir brauchen Hilfe, es gibt zwei Verletzte, bitte kommen.“ Die beiden Frauen stehen weder im Irak noch in Zentralafrika. In Schöneiche, einer Kleinstadt bei Berlin, sitzen sie auf einer sonnenbeschienenen Holzbank in einem Wäldchen. Und üben funken.

Seit einer Woche nehmen Susana und Silke an einem Trainingskurs für zivile Kräfte in Friedensmissionen teil. Durchgeführt vom Berliner Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF), finanziert vom Auswärtigen Amt (AA). Zwei Wochen lang täglich acht Stunden Seminar sollen die TeilnehmerInnen für künftige Aufgaben als Wahlbeobachter oder Aufbauhelfer von Justiz- und Verwaltung qualifizieren.

Zwölf Frauen und fünfzehn Männer zwischen 26 und 58 haben ihr Quartier im Schöneicher Hotel „Alte Mühle“ aufgeschlagen. Die Atmosphäre ist locker, man duzt sich, und abends wird lange gefeiert. Pausengespräche klingen nach großer, weiter Welt, die oft und gern bereist zu haben jeder von sich sagen kann. Ihre Studienorte reichen von Bilbao bis Manila, viele von ihnen arbeiten in Ländern, in denen andere Urlaub machen. Sie gehören zur Spezies derjenigen, von deren Job die, die ihn nicht machen, oft eine verklärte Vorstellung haben: Entwicklungshelfer, Auslandskorrespondenten, international tätige Juristen oder Ökonomen.

„Wir können hier weder Abenteurer noch Gutmenschen brauchen“, sagt Kursleiter Markus Postert. Idealbewerber? „Gibt’s nicht.“ Berufliche Praxis und einen Führerschein müssen sie haben und außer der Kurssprache Englisch ein bis zwei weitere Fremdsprachen beherrschen. Auslandserfahrung gehört dazu. Und eine gefestigte Persönlichkeit. Denn die werden sie brauchen. Um Wahlen durchzuführen mit Menschen, die nicht lesen und schreiben können; in zerbombten Dörfern und vermintem Gelände den Grad der Zerstörung nach einem Krieg zu evaluieren; oder Protokolle anzufertigen über Berichte von Flüchtlingen, die möglicherweise Dinge erlebt haben, die sich kaum in Worte fassen lassen.

Postert hat den Kurs, der das Handwerkszeug für die künftigen Friedensmissionare bieten soll, mit konzipiert. Zwei Wochen sind dafür nicht viel Zeit, um so voller ist das Programm. Gemeinsam werden vergangene Einsätze mit UN- oder OSZE-Mandat ausgewertet. Völkerrechtspapst Hans-Joachim Heinze reist für einen Tag an, um Geschichte und Entwicklung des internationalen Rechts zu lehren. In Rollenspielen wird interkulturelle Kommunikation geübt. Minentypen, Stresstraining, Arbeiten mit Übersetzern, es geht Schlag auf Schlag. „Manchmal“, sagt Postert, „sind wir am Rand der Überfütterung.“ Doch das ZIF, das mit Hilfe dieser Kurse für das Auswärtige Amt einen Personalpool für künftige Missionen aufbaut, wolle Bewerber gewinnen, die im Job stehen. Die bekämen meist nicht länger frei.

Postert ist 35 und hat selbst lange „im Feld“ gearbeitet, wie es hier heißt. Der studierte Geograf war Entwicklungshelfer in Laos, Thailand und Äthiopien. Später koordinierte er die humanitäre Hilfe der OSZE im Kosovo und in Mazedonien. Kein abgehobener Überflieger, wie man angesichts dieser Biografie erwarten könnte. Eher eine sympathische Mischung aus Teddytyp und Wasserfallredner. Und etwas gehetztem Lehrer, der weiß, dass seine Zeit bis zum Erreichen des Klassenziels verdammt knapp bemessen ist. Die heutige Etappe heißt Orientierung mit dem Global Positioning System (GPS) und Funken. Scheinbar ohne Luft zu holen, bringt Postert dem Kurs bei, dass „N“ nicht „Nordpol“ heißt, sondern „November“. Beim Funken gilt das Natoalphabet. A wie Alfa, B wie Bravo … Die Gruppe wird in Dreierteams eingeteilt, jedes bekommt ein Funkgerät. P wie Papa heißt Markus’ Walkie-Talkie. Die Basisstation, die sie in der nun folgenden Feldübung anwählen müssen.

Nicht nur das Orientieren in unbekanntem Gelände sondern auch das Reagieren auf unvorhergesehene Widrigkeiten gehört zum Überlebenstraining. „Sarajevo in Schöneiche“ könnte die Übung für den Ernstfall heißen. Das Landhotel wird zum Headquarter der Mission, der friedliche Wald ringsumher zum Rebellennest. „You never know in Schöneiche“, deutet Markus mit vielsagendem Lächeln auf finstere Risiken hinter der heilen Kleinstadtfassade. Anja aus der Pressestelle der OSZE in Wien, Olaf, Entwicklungshelfer auf den Philippinen, und der Expolizist Gerd sind Team Alpha. Anja, mit 26 eines der „Küken“ im Kurs, setzt einen Funkspruch ab: „Papa, hier ist Alfa, wir verlassen das Headquarter.“

Alfa setzt sich in Bewegung, vorbei an frühjahrsgeputzten Einfamilienhäuschen und einem Bastelladen durch den verschlafenen Ort. Nur eine Katze überquert in träger Suche nach einem Sonnenplätzchen das menschenleere Kopfsteinpflaster. Ein Totenkopf prangt auf den Schildern, die an weiß-rotem Plastikband vor einem verfallenen Haus baumeln. Aus dem Garten dringt eine weibliche Stimme: „Helfen Sie, helfen Sie, mein Mann … er stirbt …“, ruft die junge Frau, die nun hinter einem Baum hervorkommt, in gebrochenem Englisch.

Die Gruppe entscheidet, dass zwei von ihnen draußen bleiben. Nur Gerd folgt der Frau in den verwahrlosten Garten, sorgsam das abgesperrte Minenfeld meidend. Sie führt ihn an einem lang gezogenen Schuppen vorbei, dessen vier offene Türen ins Halbdunkel führen. Jede Menge Platz für einen Hinterhalt. Der 1,90-Mann Gerd setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen, schaut sich immer wieder über die Schulter. Weit und breit kein Verletzter. „Sind Sie sicher, dass Sie einen Ehemann haben?“, fragt er die Frau, die etwa zwei Köpfe kleiner ist als er. Sein „Polizeiraster“, wird Gerd später sagen, sorge dafür, dass er niemals voll Vertrauen einfach jemandem hinterherlaufe. „Ich guck erst mal in alle Ecken.“

Gerd folgt schließlich der Frau ins Haus. Auf dem Boden liegt regungslos ein junger Mann. Gerd beugt sich vorsichtig über ihn, fühlt seinen Puls. „Der stirbt nicht“, beruhigt er die Ehefrau und befördert ihren Mann in die stabile Seitenlage – was Gerd am besten von allen im Kurs gelingt, wie ihm der ZIF-Mitarbeiter später bescheinigt, der den Verletzten mimt. Auch dafür, dass die Gruppe sich entscheidet, bei der verwirrten Ehefrau zu bleiben, bis ein Krankenwagen kommt, wird es später in der Auswertung Lob geben.

Gerd hat nach dem Polizeidienst für den Weltschwimmverband gearbeitet. Als Multiplikator in Sportentwicklungshilfeprogrammen war er in Ecuador, Laos und Kuwait. Weil er „Menschen mag“ und „ihnen helfen möchte“. Deswegen auch die Ausbildung für Friedensmissionen. Auch wenn das „eine ganz andere Geschichte“ sei. Von der breiten Palette der Arbeitsmöglichkeiten bei OSZE, EU oder UN kämen ihm vor allem die nur wenige Wochen dauernden Einsätze als Wahlbeobachter als neues Arbeitsfeld gerade recht. Damit gehört er zu der Minderheit im Kurs, die nicht unbedingt einen mehrjährigen Platz im UN- oder OSZE-Tross anpeilt. Ein Drittel der Teilnehmer pro Trainingskurs will ohnehin „nur mal reinschnuppern“, sagt Kursleiter Postert.

Das Auswärtige Amt lässt sich die Ausbildung einiges kosten – die dreihundert Euro Selbstbeteiligung decken noch nicht einmal die Übernachtungsausgaben. Fünfzig bis achtzig Bewerbungen bekommt das ZIF pro Monat. Schließlich ist die Entsendung zu einer Friedensmission oft die Eintrittskarte für die Welt der internationalen Organisationen. Der Kurs ist das Sprungbrett. Kein automatisches allerdings. Denn nicht nur die Auswahl der Bewerber ist streng. „Was wir hier machen, ist ganz klar Assessment“, stellt Postert klar. Das heißt: Teilnehmer werden nicht nur ausgebildet, sondern genau beobachtet. Zehn Tage nach Kursende erfahren sie, ob sie im Personalpool des AA für künftige Missionen drin sind oder nicht.

Team Alfa umrundet den Schöneicher Goetheplatz und taucht in ein Waldstück ein. Efeubewachsene Bäume sorgen für geheimnisvolle Stimmung. Aus der nahen Siedlung dröhnt ein deutscher Popsong, zwei Halbwüchsige hüpfen superstarlike durch den Vorgarten. Team Alpha hat für Ablenkungen dieser Art keine Zeit. „Ich versteh das nicht“, sagt Olaf und kratzt sich am angegrauten Kopf. „Wir sollten bis 1957 gehen, das muss doch hier sein.“ Auf einem Plan sind die Haltepunkte aufgelistet, die sie ablaufen müssen. Der Faden scheint verloren, die Friedenshelfer lassen sich auf einer Bank nieder und konsultieren die Karte.

Schließlich entscheiden sie sich für die weitere Route, wieder aus dem Schutz des Waldes zurück auf die holprige Straße. Vor einem Gartentor steht eine weißhaarige Alte mit bunter Schürze, zitternd auf einen Stock gestützt. Misstrauen schlägt den Friedensmissionaren entgegen, auch vonseiten der Jüngeren, die im Trainingsanzug die Straße vom Laub reinigt. Am nächsten auf dem Plan vermerkten Haltepunkt Parkstraße Ecke Akazienstraße schlägt Anja, Gerd und Olaf gefährliches Hundegebell entgegen.

Anja will ihr Kurswissen möglichst im Balkan anwenden. Immer nur von anderen bei der OSZE zu hören, wie es ist, beim Aufbau von Verwaltungsstrukturen in Bosnien mitzumachen oder im Kosovo Wahlen zu beobachten, das reicht ihr nicht mehr. Mit ihren Kontakten zur OSZE-Zentrale, vier Sprachen und dem ZIF-Kurs ausgestattet, rechnet sie sich gute Chancen aus – und einen Verdienst um die sechstausend Euro. Steuerfrei. Der sei aber nicht ihre hauptsächliche Motivation, sagt Anja.

Durch Birken und Kiefern geht es einen sandigen Waldweg entlang, eine asphaltierte Straße durchschneidet die Baumwelt und kündet von Zivilisation. „Nein zum Großflughafen Schönefeld!“ steht auf einem Schild, das an einer Laterne baumelt. Anja checkt ständig per GPS die Position der Gruppe. Olaf verzeichnet die absolvierten Haltepunkte, neun sind es inzwischen. Gerd ist Herr über den Funkverkehr, gerade schnarrt es wieder aus dem Äther, die vor ihnen laufende Gruppe meldet eine Festnahme. „Den sind wir dann wenigstens los“, witzelt Gerd.

Denkste! Hinter einem Stapel sorgsam aufgeschichteter Baumstämme springt ein Vermummter hervor. „Hände hoch, Hände hoch!“, schreit er und drängt die drei mit einer Pistole zu der Wand aus Holz. Der schlanke junge Mann, in Tarnkleidung und mit schwarzer Wollmütze vorm Gesicht, ist der Kopf der vermeintlichen und gefürchteten Schöneiche Liberation Army (SLA). Hektisch fuchtelt er mit der Waffe vor Olafs Gesicht herum. „Ihr seid doch vom Militär, diese Funkgeräte sind doch vom Militär!“, kreischt der Milizenchef. Anja bleibt ganz still, die Arme erhoben, das Gesicht ganz nah an der hölzernen Wand. Auch Gerd hat die Hände oben. Nur Olaf greift in seine Brusttasche, ein Ausweis kommt zum Vorschein. „Wir sind von der UNO. Nix Militär!“, sagt er und versucht, den Aufgebrachten zu beruhigen. Hauptsache, am Leben bleiben und möglichst GPS und Funkgerät behalten. Der Milizenchef, der eigentlich Hendrik heißt und beim ZIF arbeitet, gibt sich schließlich mit Gerds Uhr zufrieden.

Was hier im Schöneicher Wald nach Räuber-und-Gendarm-Spiel aussieht, kann auf Missionen zur tödlichen Falle werden. Ende der Neunzigerjahre hatte UN-Generalsekretär Kofi Annan festgestellt, dass bei Friedenseinsätzen die Opferzahl ziviler Kräfte inzwischen höher ist als die der militärischen. „Lange hat man sich um die Ausbildung der Zivilen gar keine Gedanken gemacht“, sagt Winrich Kühne, der das ZIF leitet. Mit der OSZE-Mission im Kosovo änderte sich das. „Die Unbedarftheit, mit der Zivilisten dorthin geschickt wurden, war atemberaubend“, sagt Trainingsleiter Postert, der miterlebt hat, wie in einer „Nacht-und-Nebel-Aktion“ im März 1999 die über tausend internationalen Kräfte, die für den Frieden sorgen sollten, in Busse gepackt und vor dem Krieg in Sicherheit gebracht wurden.

Friedensmissionen benötigen wegen der komplexen Einsatzbereiche – von humanitärer Hilfe über zivile Verwaltung, Gerichtsbarkeit, Medienentwicklung, Stärkung politischer Partizipation bis zu technischen Aspekten des Wiederaufbaus – einen entsprechend breiten Personalpool. Die Erfahrung vergangener Einsätze lehrte, dass die Zusammenarbeit ziviler Kräfte mit dem Militär mitunter katastrophal war. Gleiches galt für die Kooperation der verschiedenen internationalen Institutionen.

Kühne beriet, bevor er ZIF-Chef wurde, die Lessons-Learnt-Abteilung der Vereinten Nationen. Eine gelernte Lektion: Die richtige Menschenmischung macht’s, schon beim Training. „Siebzig Prozent der Energie in so einer Mission gehen für Reibereien zwischen den Kollegen drauf“, schätzt Trainingsleiter Postert. Die Teilnehmerpalette vom Exmilitär bis zum Brunnenbauer solle dafür sorgen, „diese Spannungen rauszunehmen, bevor es ins Feld geht“.

Susana kann ein Lied von „diesen Spannungen“ singen. Sie war bereits zweimal mit der OSZE im Kosovo – beim ersten Mal war sie 24. „Ich ging dahin, um die Menschen kennen zu lernen.“ Sie kehrte ernüchtert zurück. „Viele arbeiten dort nur wegen des Geldes, oder weil sie schon so lange im Ausland sind, dass sie die Heimat und ihre Ehepartner nicht mehr ertragen.“ Heute würde sie Kollegen nicht mehr so viel anvertrauen wie damals, sagt die Deutschtschechin, die in Prag gerade ihr Politikstudium abschließt. Auch in puncto Sicherheit würde sie vieles anders machen. „Damals dachte ich, ich brauche keine Aufpasser.“ In der geteilten Stadt Mitrovica, wo sie 2001 die Kommunalwahlen vorbereitete, würde sie sich heute vorsichtiger bewegen, auch wenn ihr dort nie etwas passiert ist. Nur an eine Attacke erinnert sie sich – einen Sympathieangriff.

Ein junger Albaner hatte sich von dem Dorf, in dem die Wahlhelfer ein paar Tage zuvor Station gemacht hatten, auf den weiten Weg in die Stadt gemacht, um Susana seine Liebe zu beweisen, und er war dabei ziemlich hartnäckig. „Da saß ich mit meinen drei albanischen Kollegen allein in einer alten Schule – ich wusste ja nicht, ob der jetzt sauer wird und ein Messer zieht.“

Auch Joachim zählt zu den Kursteilnehmern mit Missionserfahrung. Er kam im Frühjahr 1999 nach Osttimor, um das UN-Referendum vorzubereiten. Die Osttimoresen sprachen sich nach 24 Jahren Besatzung durch Indonesien für die Unabhängigkeit aus, worauf proindonesische Milizen mordend und brandstifend Rache nahmen. Zuerst hörten sie von Einheimischen, die verprügelt wurden. „Als dann die Kollegen aus den östlichen Distrikten kamen, die vor den entsicherten Pistolen der Milizen geflohen waren, da haben wir uns verbarrikadiert.“ Angst hatten sie. Todesangst. „Obwohl wir wussten, dass eine australische Maschine unterwegs war, um uns rauszuholen.“ Das Flugzeug, mit dem sie schließlich, teilweise im Gang stehend, nach Darwin flogen, war das letzte, das ging, bevor das Morden seinen Lauf nahm. „Das war ein Scheißgefühl“, sagt Joachim heute. Viele, auch er, hatten überlegt, dort zu bleiben. „Wir haben erst die Leute aufgefordert zu wählen, und dann mussten sie bleiben und wir sind gegangen.“ Auch wenn einen für Situationen wie diese wahrscheinlich kein Kurs der Welt fit macht, „damals wäre es gut gewesen, wenn wir eine solche Ausbildung gehabt hätten“, sagt Joachim. Die meisten von ihnen hätten nicht einmal gewusst, wie man ein Funkgerät bedient.

Wolfgang Greven hat den Kurs im vorigen Sommer absolviert. Seit einem halben Jahr ist er Sprecher der OSZE-Mission in Mazedonien. Natürlich gebe es Momente, da nütze die Theorie wenig, sagt er. „Wenn neben mir einer totgeschlagen wird, dann kann ich hundertmal gelernt haben, dass ich neutral zu sein habe.“ Ob der Einzelne dann wirklich nicht selbst eingreife, sondern Hilfe hole, werde wohl doch „aus dem Bauch“ entschieden. Wichtig sei jedoch die Sensibilisierung dafür, dass man in solche Situationen kommen kann. Am nützlichsten war für Greven im Kurs, was er über die OSZE gelernt hat. Und das Fahrtraining von Wagen mit Vierradantrieb. Weil die meisten Unfälle auf Missionen beim Autofahren passieren, wird dieser Kursetappe ein ganzer Übungstag gewidmet.

Das ZIF-Training habe die Bandbreite „verdammt gut abgedeckt“, sagt Greven rückblickend. Beim Einsatz in Bosnien-Herzegowina oder in Afghanistan könne man auch „Sachen wie das Minentraining immer mal brauchen“. Einzig ein Manko habe die Ausbildung – das Zeitlimit. Was sich im Kurs ohnehin nicht vermitteln lasse, sagt Greven, sei die Erfahrung, „dass jeder, der auf so eine Mission geht, auch Opfer bringen muss“. Viel mehr Probleme als mangelndes Paragrafenwissen oder ein vergessener Funkcode bereiteten den Newcomern zutiefst menschliche Sorgen. Die Trennung von Partner und Kindern, das Zurechtfinden in einer Welt, deren Sprache man nicht versteht.

Alle in Schöneiche sind sich einig über das, was sie für diesen Preis bekommen. Das Tempo, das ein Leben im Ausnahmezustand „Friedensmission“ hat. Joachim, der nach Osttimor zurückkehrte und schließlich im Auftrag der UN eine Zivilverwaltung für das inzwischen unabhängige Land mit aufbauen half, sagt, diese ersten Wochen hätten ihm „den schönsten Job“ beschert, „den ich je hatte“. Ein „so freies“ Arbeiten, wo er so vieles selbst organisieren muss, das will er wieder. Es müsse nicht die UN oder die OSZE sein, auch NGO-Arbeit kann er sich vorstellen, Hauptsache Ausland. „Weil ich da interessantere Jobs machen kann als hier in meinem Alter“, sagt der 31-Jährige.

„Du lebst intensiver, du arbeitest unter Hochdruck und mit sehr unsicheren Koordinaten, du bist Fremden auf einmal ganz nah“, schwärmt Susana. Würde sie zum Wiederaufbau in den Irak gehen? „Das wäre mir zu gefährlich, ich mache das nicht wegen des Adrenalins“, sagt sie. Wegen des Geldes? Das dürfe man nicht überschätzen, sagt Susana. Klar verdiene sie auf Mission überdurchschnittlich gut, aber von dem Geld müsse sie dann auch eine Weile leben, wenn es nach der Rückkehr erst einmal keinen Job gibt.

Was es nach dem Heimkommen unter Umständen auch nicht gibt, sind Menschen, die Verständnis und Interesse für das Leben „draußen“ aufbringen. Für das, was zur „Sucht“ werden kann, wie ZIF-Mann Postert es ausdrückt. Das Gefühl, dass es „nie Routine gibt, niemals Alltagstrott“. Von Familie und daheim gebliebenen Freunden entfernen sich viele Friedenshelfer im Einsatz nicht nur räumlich – schließlich erscheint das Leben an den Brennpunkten der Geschichte oft ungleich spannender als das immer gleich Alltägliche daheim. Doch nach Wochen, Monaten oder Jahren lösen sich die eng zusammengeschweißten Gruppen der Missionen wieder auf und zerstreuen sich über alle Kontinente. Es gibt Menschen, die dabei die Bodenhaftung verlieren, Mission Junkies werden sie genannt.

Auch Kursleiter Postert sah bei sich diese Gefahr: „Das ZIF mit aufzubauen war mein Absprungbrett, um auch hier in Deutschland noch leben zu können.“ Noch intensiver will sich das ZIF auch um die Nachbetreuung der Heimkehrer kümmern. Vorsorglich verkündet Postert im Kurs schon mal eine Botschaft, die so überlebenswichtig sein kann wie Minenkenntnisse: „Kappt niemals eure Wurzeln!“

ANETT KELLER, 31, beendete kürzlich ihr Volontariat bei der taz. Sie studiert Journalistik und Politikwissenschaft in Leipzig. Seit einem einjährigen Studienaufenthalt in Indonesien verspürt auch sie des öfteren Fernweh