: Im richtigen Moment
Unter dem werbewirksamen Titel „Paul Auster entdeckt Charles Reznikoff“ erscheinen in Deutschland zum ersten Mal die Gedichte eines vergessenen amerikanischen Lyrikers. Reznikoff ist ein Poet des Auges, der Gesehenes auf seinen Kern reduziert
von VOLKER FRICK
Von Charles Reznikoff, einem Lyriker, der bisher in Deutschland nur wenig Aufmerksamkeit erhielt, ist nun zum ersten Mal ein Buch mit einer kleinen Auswahl seiner Gedichte erschienen. Seine Eltern, russische Juden, kamen nach Amerika, bevor er am 30. August 1894 in Brooklyn, New York, geboren wurde. Charles Reznikoff ging gerne spazieren, liebte es zu lesen, zu schreiben. Er fand Freunde, ungarische Juden, mit denen er die Werke von Arthur Symons oder Ernest Dowson diskutierte, Poeten, die noch zu „neu“ waren, um im Schulunterricht Erwähnung zu finden.
Seine frühen Verse zeigen den Einfluss des Imagismus, besonders Pounds. Seine Prosa verweist auf Joyce. Über den Umweg der Geschichte als akademischem Fach – und er bewahrte sich zeitlebens sein historisches Interesse – gelangte er zum Jurastudium und wurde Rechtsanwalt, übte diesen Beruf aber nur wenige Wochen aus. Das letzte Buch von ihm, zu Lebzeiten erschienen 1975, trug den Titel „Holocaust“. Am 22. Januar 1976 verstarb Charles Reznikoff.
Paul Auster, der Charles Reznikoff gegen Ende seines Lebens kennen gelernt hat, wird gerade in Deutschland gerne gelesen. Aber von diesem Autor ist nicht mehr viel zu erwarten, was nun keineswegs seine frühen Romane, seine Gedichte oder Essays herabwürdigen soll. Wenn aber eine Auswahl von Gedichten von Charles Reznikoff unter dem Titel „Paul Auster entdeckt Charles Reznikoff“ veröffentlicht wird, erweckt dies den Eindruck einer platten Marketingstrategie, zumal das Buch in einer Reihe erscheint, die dann unter anderem auch „Thomas Kling entdeckt Sabine Scho“ anbietet – schön für Herrn Kling und hoffentlich vorteilhaft für Frau Scho.
Vielleicht hat dieses Konzept einen Sinn, aber am vorliegenden Band gibt es einiges zu bemäkeln. Er besteht aus einem Vorwort von Auster, geschrieben Mitte der 80er, den von Auster ausgewählten Gedichten von Reznikoff, einem Nachwort von Auster, einer biobibliografischen Notiz zu Auster (von wem?), in der sich dann die Behauptung findet, „Timbuktu“ sei „der Roman, der seinen Ruhm als Romanautor auch in Deutschland endgültig festigte“, was natürlich völliger Blödsinn ist.
Einerseits begann eine umfassende Rezeption dieses Autors kurz nach dem Erscheinen der ersten Übersetzungen seiner Romane, und andererseits ist „Timbuktu“ sicherlich einer der schwächsten Romane von Paul Auster. Ja, und dann kommt in dem vorliegenden Band noch eine autobiografische Skizze von Reznikoff – alles angemessen und einfühlsam übersetzt von Andrea Paluch und Robert Habeck.
Das erwähnte Nachwort von Paul Auster ist ein Essay, den er vor ziemlich genau 25 Jahren geschrieben hat, ein Hinweis, der in diesem Buch fehlt.
Die nun vorliegenden Gedichte sind eine Auswahl, die den Zeitraum von 1917 bis 1976 umfasst, und können deshalb nur einen kleinen Einblick in das Werk von Reznikoff gewähren, welches er fast zeitlebens nicht nur selbst verlegt hat, sondern oftmals gar selbst druckte. Auch sein Großvater war ein Dichter, und als dieser fern seiner Heimat starb, erreichte seine Habe dessen Frau, darunter auch sein literarischer Nachlass, geschrieben in Hebräisch, einer Sprache, die diese nicht verstand. Aus Angst, diese Worte könnten die Familie kompromittieren, verbrannte sie alles.
So wird verständlich, dass Charles Reznikoff seine eigenen Gedichte selbst druckte und verlegte, sich aber um eine Verbreitung nicht im Geringsten kümmerte. Charles Reznikoff ist ein Poet des Auges, das Gesehene wird auf seinen Kern reduziert, und das Subjekt des Sehenden verschwindet; was bleibt, ist der reine Gegenstand. Der Essay von Paul Auster ist präzise und gibt uns einen guten Einblick in die Lyrik von Charles Reznikoff, allein sein Titel fasst ein, was diese auszeichnet: „Der entscheidende Moment“. Dumm nur, dass auf Seite 89 der Tod von Reznikoff auf das Jahr 1974 vorverlegt wird, kein Fehler von Auster, sondern des Lektorats.
Das Buch gefällt und ist allein schon aufgrund der erstmaligen Veröffentlichung der Gedichte nicht zu unterschätzen. Im Gegenteil, es kann helfen, einem großen amerikanischen Autor posthum die verdiente Aufmerksamkeit zu schenken, die er zeitlebens nicht erhalten hat.
„Paul Auster entdeckt Charles Reznikoff.“ Aus dem Amerikanischen vonAndrea Paluch und Robert Habeck.Europa, Hamburg/Wien 2002,96 Seiten, 12,90 €