: Ganz Österreich probt den Ausstand
Mit Streiks will der Gewerkschaftsbund gegen die Rentenreform und Sparpolitik der Regierung protestieren
WIEN taz ■ Lange war der 1. Mai in Wien nicht so kämpferisch. Über 100.000 Menschen applaudierten vor dem Rathaus den Chefs der SPÖ, die der Regierung ein „Es reicht!“ entgegenschmetterten. Man rüstet zur Kraftprobe. Erstmals seit über 50 Jahren bereitet der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) landesweite Streiks vor. Kommenden Dienstag wird durch Arbeitsniederlegungen im öffentlichen Verkehr und in den Druckereien das Erwerbsleben lahm gelegt. Wo gearbeitet wird, sind Betriebsversammlungen angesagt.
Die Streikmaßnahmen gelten dem kompromisslosen Vorgehen der Regierung in der Pensionsreform, der geplanten Privatisierung von Post und Telekom und einem Sparpaket im Bildungsbereich. ÖGB-Präsident Fritz Verzetnisch (SPÖ) hatte letzte Woche mit Christoph Leitl (ÖVP), dem Chef der Wirtschaftskammer, bei Bundeskanzler Wolfgang Schüssel vorgesprochen, um eine Konsenslösung anzubieten. Die Pensionsreform solle auf Herbst verschoben werden. Bis 30. September würden sie einen Entwurf vorlegen, der eine umfassende Reform samt einer Harmonisierung der Systeme beinhaltet.
Schüssel ließ die Sozialpartner abblitzen und verärgerte damit auch die mehrheitlich der ÖVP angehörenden Landeshauptleute. Sie protestierten gegen die Regierungsvorlage, die im Schnellverfahren Gesetz werden soll. Denn wenn ältere Arbeitnehmer nicht mehr in Frühpension gehen können, wird die Arbeitslosigkeit steigen. Das belastet die Sozialfonds der Länder.
Die ärgsten Ungerechtigkeiten, die v. a. bei Frauen zu Verlusten von 40 Prozent und mehr geführt hätten, wurden getilgt. Aber laut Berechnungen der Arbeiterkammer erzeugt die Kombination von längerer Arbeitszeit, Verlängerung des Durchrechnungszeitraums von 15 auf 40 Jahre und unzureichender Valorisierung alter Beiträge immer noch unbillige Härten für jene mit geringen Pensionen. An der Basis brodelt es schon lange. Ein Rückzieher der Streikdrohung hätte den ÖGB beschädigt. Eine Niederlage ebnete den Weg für den weiteren Sozial-Abbau. Verzetnisch ist optimistisch: „Wer den Kampf nicht aufnimmt, hat ihn verloren.“ RALF LEONHARD
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