: Willkommen zu Hause
aus Nikosia KLAUS HILLENBRAND
Freiheit hat ihren Preis. Dieser hier heißt Warten bei 33 Grad im Schatten. Nur dass es hier keinen Schatten gibt. Zwischen den reifen Kornfeldern einer weiten Ebene bewegt sich die endlose Fahrzeugkolonne zentimeterweise. In Richtung auf zwei Flaggen am Horizont, eine weißrote und eine rotweiße. Dort hinten in Pergamos beginnt das Territorium des Landes mit den beiden Fahnen, das es angeblich gar nicht gibt. Die vielen hundert Fahrzeuginsassen sind unterwegs in ihre alte Heimat.
Das erste Mal seit fast drei Jahrzehnten dürfen sie die Grenze zwischen der griechischen Republik Zypern und dem türkischen Nordzypern übertreten. 29 Jahre lang war das streng verboten, wurden Sandsäcke, Stacheldraht und tausende türkischer Soldaten aufgeboten, um das zu verhindern. Nun, ganz plötzlich, geht es. Die letzte Mauer Europas ist gefallen.
Die verschwitzten griechischen Zyprioten in ihren glühend heißen Autos sind geduldig, aber gespannt. Geht es wirklich einfach so?
„Das Ganze ist völlig chaotisch organisiert“, meint Mustafa Anlar. Der 53-Jährige ist türkischer Zypriot und hat mit Frau und Tochter den umgekehrten Weg aus dem Norden in den griechischen Süden gemacht. Jetzt sitzt die Familie nach einstündigem Irrweg endlich in Nikosia im Bus nach Limassol. Griechische Schlager dudeln. Mit großen Augen blicken die Menschen im Sonderbus auf die Hochhäuser und luxuriösen Läden entlang der Makarios Avenue, von der sie bisher nur die ärmere nördliche Hälfte kennen lernen durften. „Es wird für uns nicht einfach sein, so weit zu kommen“, sagt Anlar skeptisch. In der Hafenstadt Limassol hoffen sie, ihre alten Häuser wieder zu finden, aus denen sie vor 29 Jahren von den Griechen vertrieben wurden.
Es ist noch nicht einmal drei Wochen her, dass es der Regierung des international nicht anerkannten Nordzypern über Nacht eingefallen ist, die letzte Mauer Europas zu öffnen. Einfach so. Mehr als 300.000 Besucher von beiden Seiten haben die Behörden seither gezählt, und das bei etwa 800.000 Insulanern. Aus dem nur für Diplomaten und neutrale Ausländer geöffneten Checkpoint in Nikosia mit strengsten Kontrollen wurden ganz schnell drei Übergänge für jedermann. Da stehen jetzt provisorische Schreibtische, an denen die griechisch-zypriotischen Polizisten den Überblick zu wahren bemüht sind. Es gelingt ihnen nur mit mäßigem Erfolg. UN-Blauhelmtruppen haben in der Pufferzone Netze gegen die brennende Sonne gespannt, geben Wasserflaschen aus, wenn zu viele Menschen zu lange warten müssen. Auf türkisch-zypriotischer Seite werden kleine weiße Zettel, als Visa bezeichnet, im Akkord gestempelt.
Inzwischen haben gewaltige Bulldozer im Auftrag der UN-Friedenstruppe an einer anderen Straße in Nikosia die mit Gras bewachsenen Erdwälle und Stacheldrahtrollen beseitigt. Weitere Passierpunkte sind in Planung.
Aber wohin soll das alles führen? Zu einer Lösung des jahrzehntealten Zypernkonflikts? Klappt Nordzypern nach dem Muster der DDR in sich zusammen? Oder handelt es sich nur um eine neue Wendung im komplizierten Schachspiel von Griechen und Türken?
Einstweilen nutzen die Zyprioten ihre neue Freiheit und setzen sich über alle Bedenken nationalistischer Besserwisser kühn hinweg. Wenn der griechische Exilbbürgermeister von Kyrenia vor Besuchen in Nordzypern warnt und behauptet, das Vorzeigen eines Passes sei schon fast die Anerkennung der verhassten „Türkischen Republik Nordzypern“, mögen seine Untertanen nicht mehr hinhören. Sie fahren einfach los. So wie Androulla, Christos, Savvas und all die anderen im Campingbus, für die sich nach eineinhalb Stunden Wartezeit den Schlagbaum von Pergamos öffnet. Es geht in die Hafenstadt Famagusta, türkisch Gazimagusa, griechisch Ammochostos – die alte Heimat. Dort hat Savvas Christofides bei einem Besuch vor drei Tagen sein Geburtshaus wiedergefunden – und nichts hatte sich verändert. Die neuen Einwohner, Türken vom Festland, ließen ihn freundlich ein. Das ermutigt.
Nun ist es so, dass viele griechische Zyprioten – Savvas Christofides ist da eine seltene Ausnahme – hoffen, eines Tages wieder in die alte Heimat ziehen zu können. Dann aber müssten sich die neuen zyperntürkischen Bewohner, größtenteils selbst Flüchtlinge, eine neue Heimat suchen. Mustafa Anlar, der mit seiner Familie auf dem Weg nach Limassol ist, hat aber wie die meisten türkischen Zyprioten mit der Vergangenheit abgeschlossen. „Ich will nicht nach Limassol zurück“, sagt Anlar. „Da wäre ich ein Bürger zweiter Klasse.“
Nur wenige Zyperntürken haben in den ersten Wochen im Süden eine Arbeitserlaubnis beantragt, obwohl die problemlos erteilt wird. Anlar saß 1974 im Krieg in Gefangenschaft. Er war wochenlang im Fußballstadion von Limassol eingesperrt. Hass hege er deshalb nicht. Zweifel schon: „Alle Griechen sagen, es gäbe keine Probleme mit den Zyperntürken. Aber ist ihnen zu trauen?“
Der Bus hält in einem Vorort von Nikosia an einer Tankstelle. Da können die türkischen Zyprioten für die Fahrt einkaufen: Chips, Schokolade, Trinkwasser. Viel Geld hat keiner dabei. Die Löhne sind im armen Norden drei- bis viermal geringer als im wohlhabenden Süden. Und die schwindsüchtige Türkische Lira will hier niemand haben.
Auch in Famagusta ist die türkische Währung über Nacht von Preisschildern und Speisekarten verschwunden. Das Zypern-Pfund regiert. Das früher allgegenwärtige türkische Militär hat sich hinter die Kasernenmauern verzogen. Griechische Zyprioten tummeln sich am Sandstrand, zyperntürkische Familien flanieren am Mittelmeer entlang – Multikultur im letzten geteilten Land Europas. Dass selbst notorischen Nationalisten noch keine Provokation eingefallen ist, wundert und erfreut die Politiker beider Seiten. „Das hätte ich nie erwartet“, hat Zyperns Innenminister Andreas Christou gesagt.
Ein stämmiger älterer Mann tritt auf Savvas Christofides zu und begrüßt den Besucher aus der Fremde auf Englisch: „Willkommen in der Heimat.“ Woher er stamme. Aus Famagusta.
Und selbst? Aus Tohni.
In diesem kleinen Dorf im Süden ermordeten 1974 fanatische griechische Nationalisten 84 männliche Einwohner, vom Kind bis zum Greis. Christofides weiß es. Und sagt es. Dennoch: man müsse vergessen können. „Du warst nicht verantwortlich. Und ich habe euch nicht aus Famagusta vertrieben.“
Für Mustafa Anlar im schaukelnden Bus auf dem Weg nach Limassol ist die Grenzöffung noch lange nicht ausreichend. „Es besteht das Risiko, dass zwei Staaten bestehen bleiben“, meint er. Das sei keine Lösung. Wie die große Mehrheit der türkischen Zyprioten wünscht er sich einen gemeinsamen Bundesstaat mit zwei Zonen für die jeweilige Bevölkerungsgruppe. Doch genau das haben die Machthaber Nordzyperns erst vor wenigen Monaten strikt abgelehnt. Anlar will in die EU, wie die griechischen Zyprioten, die im nächsten Jahr beitreten werden. Doch so lange der Norden als türkisch besetztes Gebiet gilt, fließen auch keine Hilfsgelder aus Brüssel. „Was ist das für ein Staat? Wir können mit unseren Papieren nur in die Türkei einreisen“, klagt der Lehrer aus Nordnikosia. Weil die türkischen Zyprioten aber auch als Staatsbürger der Republik Zypern gelten, können sie sich im Süden richtige Pässe besorgen, die überall gelten und mit denen man schon bald überall in Europa leben und arbeiten kann. Bis zur Grenzöffnung hatten die Behörden im Norden das verboten. „Jetzt werde ich das tun“, sagt Mustafa Anlar – und er ist nicht der Einzige. Die zyperngriechischen Passämter mussten zusätzliches Personal einstellen, so groß ist der Ansturm.
Versucht der greise zyperntürkische Präsident Denktasch seine schwindende Macht zu stabilisieren? Davon ist Mehmet Ali Talat, Oppositionsführer im Norden, überzeugt: „Es ist der letzte Versuch des Regimes, den Status quo von zwei Ländern zu erhalten.“ Aber warum führt Denktasch dann mit der Grenzöffnung seinen Grundsatz ad aburdum, nach dem Griechen und Türken nicht zusammenleben könnten? „Dieses Denktasch-Argument ist vollständig kollabiert“, sagt der Chef der Türkisch-Republikanischen Partei: „Jetzt besetzten sie nur mehr das Land, nicht mehr das Volk.“ Im Hauptquartier der Partei in einer der engen Gassen der Altstadt argumentiert Talat, dass es der Türkei mit dem einseitigen Schritt darum gehe, Zeit zu gewinnen, um die eigene Chance für einen EU-Beitritt zu wahren: „Ankara musste sein Image verbessern.“ Aber wie es weitergehen soll, das weiß der fast barhäuptige Talat auch nicht – nur dass es dabei nicht bleiben darf.
Der Hafen von Kyrenia im Norden war schon immer pittoresk. Doch erst jetzt, da tausende Inselgriechen die schönste Stadt der Insel neu entdecken, sind die Restaurants gefüllt. Savvas und seine Freunde sind am Abend aus Famagusta kommend eingetroffen, trinken Bier oder Fruchtsaft. Abgerechnet wird selbstverständlich in Zypern-Pfund. Eines zumindest scheint sicher: Wie die Mark der DDR nach dem Mauerfall wird auch die türkische Lira in Nordzypern bald ausgedient haben. Keiner mag mehr mit 10-Millionen-Scheinen hantieren. Manche knüpfen schon geschäftliche Kontakte wie der zyperntürkische Drucker Aytekin, der künftig für Geschäftspartner im Süden Plakate herstellen will. Dass die zyperngriechische Seite das umstrittene Handelsembargo gegen den Norden gelockert hat, hätte früher hitzige Reaktionen ausgelöst. Jetzt findet man es selbstverständlich.
Mustafa Anlar hat in der Bagiazit-Straße im ehemals türkischen Viertel von Limassol sein altes Haus gefunden. Doch keiner öffnet. Das Schaufenster, in dem sein Vater früher einmal Kurzwaren feilbot, ist vernagelt. Anlar zeigt auf ein Fenster: „Dahinter bin ich geboren.“
Von den Häusern blättert der Putz. In derselben Straße, zweihundert Meter weiter, steht das ehemalige Haus der Schwiegermutter. Es ist frisch renoviert. Hier werden die unbekannten Gäste aus dem Land, das es eigentlich gar nicht gibt, mit Freude und Ausgelassenheit empfangen werden.