Entfesselte Gewalt

Rechte Jugendliche haben einen Mann fast tot getreten. Heute urteilt das Landgericht Neuruppin. Die wichtigste Frage wird unbeantwortet bleiben

VON HEIKE HOLDINGHAUSEN

Was passiert ist in jener Nacht des 15. August 2003, darüber sind sich alle relativ einig. Unklar ist, warum es passiert ist. Warum ein Trupp rechter Schläger in wechselnder Besetzung einen vierzigjährigen Mann in einer Nacht drei Mal überfallen und schließlich beinahe umgebracht hat.

Weil, sagt Thomas W., 25, das Opfer ihn angegriffen hat. Der arbeitslose Dachdecker Karsten B., 40, war auf dem Heimweg von einem Skatabend. Er hatte nicht auf der Hollywoodschaukel im Garten seines Freundes übernachten, sondern nach Hause laufen wollen. Es ist nicht weit von der Gartensparte „Am Waldeck“ in Glöwen bis zu seinem Wohnort Groß Leppin.

Sein Heimweg führt über eine Asphaltstraße, gerade ein Auto hat auf ihr Platz. „Er torkelte herum“, sagt Thomas. Er hält an, will den Mann zur Rede stellen, die Männer beginnen eine Prügelei. Karsten ist stärker, überwältigt Thomas. Dessen Bekannte Nicole K., 19, im siebten Monat schwanger, hatte mit im Auto gesessen. Sie eilt ihm zur Hilfe, tritt Karsten in den Rücken.

Die Männer trennen sich, Thomas und Nicole fahren zurück zu der privaten Party, die sie zuvor nur kurz verlassen hatten: Anhänger der NPD feiern in Glöwen, dass sie genug Unterschriften für ihre Partei gesammelt und ihr die Teilnahme an den brandenburgischen Kommunalwahlen im Oktober ermöglicht haben. Kurz nach der Prügelei steht Thomas im Wohnzimmer zwischen den Gästen. „Du und du, ihr kommt mit“, sagt er.

„Er war zornig“, sagt sein Anwalt. Darum sammelt er Ronny M. und Enrico B. ein und fährt sie zum Sträßchen Richtung Storbeckshof. Dort treffen sie Karsten wieder. Den hatte die Prügelei nicht sonderlich beeindruckt, es war nicht seine erste. Aber als er jetzt dasselbe Auto wieder heranfahren sieht, da weiß er: „Jetzt gibt’s den Arsch voll.“ Er läuft in den Wald, lässt sich in Blaubeersträucher fallen. Ronny, 18, und Enrico, 21, steigen aus dem Wagen, suchen Karsten, übersehen ihn zunächst. Aber Thomas rangiert, lenkt die Scheinwerfer des Wagens in den Wald. „Da ist das Schwein“, ruft Nicole. Enrico, Vater ihres Kindes, und Ronny fallen über Karsten her, treten mit DocMartin’s-Schuhen gegen Oberkörper und Kopf, bis er vor Schmerzen schreit. Seinen Tod, sagt der Staatsanwalt, nehmen sie in Kauf.

Weil er dachte, sagt Enrico B., das Opfer habe seine Freundin geschlagen. Thomas, der Unterlegene der ersten Runde, habe ihn angelogen, habe ihm auf der Fahrt zum Opfer gesagt, Nicole habe von dem Mann „eins aufs Auge“ bekommen. Und wenn seine Familie angegriffen wird, sieht der massige Glatzkopf mit der runden Brille rot. „Verminderte Steuerungsfähigkeit“, nennt das sein Anwalt. Enrico verfüge über ein „kindliches Gemüt“. Der Staatsanwalt fordert siebeneinhalb Jahre Haft für ihn, wegen versuchten Totschlags. Er trug Stahlkappenschuhe, er hat sie wie „gefährliches Werkzeug“ gebraucht. Auch Ronny hatte solche Schuhe, auch er hat noch getreten, als das Opfer sich längst nicht mehr wehrte.

Weil Ronny, sagt seine Verteidigerin, macht, was man ihm sagt. Der 18-Jährige sieht so aus, wie sich weniger Fantasiebegabte einen stumpfen Schläger vorstellen: geschorener Schädel, tief liegende Augen, breites Kinn. Er habe „kein Selbstwertgefühl“, sagt seine Anwältin, „ordnet sich anderen unter“. Er habe Karsten nicht gegen den Kopf getreten, nur gegen den Oberkörper. Das Detail ist wichtig – wer Menschen gegen den Kopf tritt, dem kann eine Tötungsabsicht unterstellt werden.

Die habe ihr Mandant aber nicht gehabt, sei ja auch nur das erste Mal mitgefahren, auf Befehl, „treudeutsch doof, wie das in solchen Kreisen üblich ist“, heißt es vor Gericht. Dort gibt sich Ronny locker, in einer Verhandlungspause scherzt er mit seinen Kumpanen, pöbelt einen Langhaarigen mit Peace-Sticker an, der den Prozess beobachtet, weil er findet, „dass man die hier im Auge behalten muss“. Ronny hat keinen Schulabschluss, in der Prignitz – Arbeitslosenquote 23 Prozent – hat er keine Chance auf einen Job. An jenem Abend des 15. August aber hat Ronny eine Aufgabe, die erledigt er, danach fährt der Trupp wieder zurück zur Party.

Dort feiern, unter anderem, noch Jörg E., 19, und Jens K., 18. Jens hat an diesem Abend noch niemanden verprügelt. Er will aber auch mal. Kurz darauf fährt Thomas ein drittes Mal zur Landstraße Richtung Storbeckshof, im Auto sitzen diesmal Enrico, Jörg und Jens.

Weil er, sagt der Verteidiger von Jens K., eine verkorkste Existenz sei. Bei Karsten angekommen, steigt er aus dem Auto. Karsten ist inzwischen nicht mehr allein, zwei Leute haben ihn gefunden, Polizei und Krankenwagen gerufen. Die bulligen Angreifer lassen sich nicht stören und gehen erneut auf Karsten los. Sie sollen, sagen die Zeugen, seinen Körper vom Straßenrand auf den Asphalt gezogen und hochgehalten haben. Dann tritt Enrico wieder zu, schließlich auch Jens.

„Ich dachte, der stirbt“, antwortet er im Prozess auf die Frage des Staatsanwalts, was ihm durch den Kopf gegangen sei. Und was er dann gedacht habe, hakt der Jurist nach. „Bloß weg hier, war mir ja egal“, sagt er. Ursprünglich war Jens wegen Körperverletzung angeklagt, nach seiner Aussage, die ein strafmilderndes Geständnis werden sollte, plädiert der Staatsanwalt auf versuchten Totschlag. Viereinhalb Jahre soll er nun hinter Gitter. Sein Anwalt bescheinigt ihm ein „gewisses Maß an Lebensfrust“. Er ist arbeitslos, lebt in einem kleinen Dorf ohne Kontakte zu Gleichaltrigen. Fehlt ihm deshalb der Reflex, der ihn von dem blutenden, bewusstlosen Karsten hätte abbringen können?

Also, sagt Jörg E., er könne sich das Ganze auch nicht erklären. Er sei sowieso viel zu „besoffen“ gewesen. In ihrem Plädoyer zählt seine Anwältin penibel auf, wie viele Flaschen Bier und Schnaps ihr Mandant im Laufe des Abend in sich hinein füllt. Er war mit dem Fahrrad zur NPD-Party geradelt, vom kleinen Dörfchen Rehberg, dort lebt er mit seiner Mutter. Als er das letzte Wort hat, greift er zu einem karierten Blatt Papier, liest eine Erklärung vor. „Schockiert“ sei er, dass das Opfer so stark verletzt wurde. „Ich erbitte ein mildes Urteil und möchte auf meine Mutter hinweisen“, liest er, und „die Verhandlung war für mich eine pädagogische Erziehung.“ Seinen Schopf trägt er streng seitengescheitelt, sein schwarzes T-Shirt verkündet „Heavy Metal ist Krieg“. Der Staatsanwalt fordert dreieinhalb Jahre Haft wegen versuchten Totschlags. Mit Realschulabschluss und Lehrstelle sei er der Klügste und Vernünftigste der Gruppe, der wissen müsse, was er tue. Seine Anwältin fordert Freispruch. Für die beschriebenen Untaten habe ihr Mandant zu viel getrunken, und seine geordnete Existenz solle man ihm doch nicht zerstören.

Zerstört ist hingegen die Existenz von Karsten B. Seitdem ihm die fünf Jugendlichen das Gesicht eingetreten haben, sieht er doppelt – als Dachdecker wird er nie wieder arbeiten können. Unter seinen Wangen sitzen Titanplatten, die beim Kauen schmerzen, er hat oft Kopfweh und Angst, auf die Straße zu gehen.

Thomas W., der Regie geführt hat an diesem Abend, beschäftigt der Fall nur noch noch mäßig, er blickt nach vorn, auf seinen nächsten Prozess. Nachdem er aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, in der er wegen der Schlägerei saß, zündete er im November in Pritzwalk den Imbisswagen eines Vietnamesen und den eines Türken an. Seitdem sitzt er wieder, ihm droht eine mehrjährige Freiheitsstrafe. Darum sei es seinem Mandanten „wurst“, ob er nun zwei oder drei Jahre bekomme, erklärt sein Verteidiger.

In seinem Plädoyer bemüht Veikko Bartel, der gewandte Verteidiger von Thomas W., Friedrich Nietzsche: „Der Wahnsinn ist beim Einzelnen die Ausnahme, in der Gruppe die Regel“, zitiert er. Dem Skatbruder von Karsten fehlt die philosophische Ausbildung. „Die haben jemanden gesucht, den sie vermöbeln können, einfach so“, sagt er. Heute will das Landgericht Neuruppin die Urteile verkünden.