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Archiv-Artikel

Gähnviren beim Theatertreffen

Aus gegebenem Anlass ist darauf hinzuweisen, dass auf dem derzeit in Berlin stattfindenden Theatertreffen der Ausbruch einer Bühnenseuche droht, der beim so genannten Publikum zu Anfällen von Zerrüttung und in besonders schweren Fällen zu akuter Langeweile führen kann. So besteht Grund zu der Annahme, dass das Flugblatt „40. Theatertreffen“, das öffentlich ausliegt und vor einzelnen Vorstellungen warnt, von den Theatergängern nicht ernst genommen wird. Zum Beispiel wird in besagtem Papier vor dem regietreibenden Frank Castorf gewarnt: „Castorf lässt Figuren aufeinander prallen, die überscharf wirken und dabei out of focus, die multicolor erscheinen und dabei wie verblasst.“ Besucher der Quarantänestation „Haus der Berliner Festspiele“ sind Michael Thalheimer ausgeliefert: „Thalheimers Regie-Skalpell seziert, legt die Konstruktion von Elementen frei, amputiert nicht. Schnitzlers Diagnose, die Kernlosigkeit des Ichs, wird bestätigt und den aktuellen Bedingungen entsprechend verschärft.“ Besorgnis erregend Andreas Kriegenburg: Er „hebelt das antike Gewaltpanorama zuerst tollkühn in die bedrängendste Gegenwart.“ Erreger von Zerrüttung und/oder Langeweile werden vermutet in Ulf Schmidts „Heimspiel“: „Das Paar in Ulf Schmidts ‚Heimspiel‘ ist am Boden, und es behandelt sich wie Bodensatz.“ In manchen Stücken werden Gähnkrampfviren in starker Dosierung verabreicht: „Das Stück erschreckt durch die Kälte und beiläufige Brutalität, mit der die Figuren im Umgang mit ihrem Umfeld gezeichnet sind.“ Heilbar scheint folgender Infekt: „Dem Fleischer bricht das Herz. Die Dinge sind nicht so, wie sie immer schon waren.“ Bis das Gegengift gegen die Überdosis Dummheit, die bei Castorfs Regie frei wird, parkettdeckend eingesetzt werden kann, hilft vorläufig nur absolute Theaterabstinenz. Sonst nämlich kann dies passieren: „Der zerbrochene Blick öffnet Sichtlinien, und nur aus den Scherben lässt sich Neues basteln.“ Und das womöglich ohne örtliche Betäubung. F. W. BERNSTEIN