: Rechnung mit vielen Unbekannten
VON ANDREAS ZUMACH UND KARIM EL-GAWHARY
Wann wird die irakische Übergangsregierung eingesetzt?
Im November 2003 traf der Chef der amerikanisch-britischen Besatzungsverwaltung im Irak, Paul Bremer, mit dem von Washington eingesetzten 25-köpfigen Regierungsrat in Bagdad die Vereinbarung, dass die USA und Großbritannien zumindest einen Teil ihrer Macht zum 30. Juni an eine irakische Übergangsregierung übergeben. Anfang dieser Woche räumte mit Verteidigungsminister Donald Rumsfeld erstmals ein Regierungsmitglied der beiden Besatzungsmächte die Möglichkeit ein, dass sich die Übergabe verzögern könnte. Denn das Auswahlverfahren für die Übergangsregierung und ihre Zusammensetzung sind unter den 25 Mitgliedern des derzeitigen Regierungsrats weiterhin heftig umstritten. Sicher ist, dass die Übergangsregierung nicht durch allgemeine, freie Wahlen bestimmt werden soll. AZU
Welche Kompetenzen soll die Übergangsregierung haben?
Die Bush-Administration will mit der Installierung einer von ihr als „souverän“ bezeichneten Regierung in Bagdad rechtzeitig vor der heißen Phase des US-Präsidentschaftswahlkampfs einen Erfolg ihrer immer heftiger kritisierten Irakpolitik vorweisen können. Tatsächlich wäre diese Übergangsregierung (abgesehen von ihrer fehlenden Legitimation durch allgemeine, freie Wahlen) keineswegs souverän.
Denn die Besatzungstruppen sollen – wenn auch zahlenmäßig reduziert – im Land bleiben. Auch die Kompetenzen der Übergangsregierung in der Außen- und Wirtschaftspolitik sollen beschränkt bleiben. Die Bush-Administration hat das Interesse, dass die Übergangsregierung mit Washington über zeitlich unbefristete Möglichkeit zur Stationierung amerikanischer Soldaten im Irak und zur Nutzung von sechs irakischen Militärbasen durch US-Streitkräfte ein Abkommen schließt. Zudem soll die Übergangsregierung die Exekutivverfügungen, mit denen Paul Bremer bislang das Land regiert, in irakische Gesetze umwandeln – darunter auch solche Verfügungen, wie die über die Privatisierung der 200 größten irakischen Unternehmen vom September 2003, die ein Verstoß gegen die in den Genfer Konventionen geregelten Rechte und Pflichten von Besatzungsmächten und damit völkerrechtswidrig sind. AZU
Wann finden allgemeine, freie Wahlen statt?
In der Anfang März von den Mitgliedern des Regierungsrats unterzeichneten vorläufigen Verfassung Iraks wird als Termin Ende 2004/Anfang 2005 genannt. Ob dieser Termin jedoch eingehalten wird, ist völlig offen. Denn die Einschätzungen, welche politischen, technischen und sicherheitsrelevanten Voraussetzungen erfüllt sein müssen, bevor Wahlen stattfinden können, gehen weit auseinander.
Eine Mitte Februar von UNO-Generalsekretär Kofi Annan entsandte Erkundungsmission kam zu dem Ergebnis, dass Wahlen eine intensive Vorbereitungsphase von mindestens acht Monaten erfordern würden und daher unter günstigsten Umständen frühestens im Dezember 2004 stattfinden könnten. Doch bis jetzt haben die Vorbereitungen noch nicht einmal begonnen. AZU
Wann erhält der Irak eine endgültige Verfassung?
Laut der Anfang März unterzeichneten vorläufigen Verfassung soll die endgültige Verfassung erst nach freien und allgemeinen Wahlen (also frühestens Anfang 2005) ausgearbeitet und schließlich einem Referendum des irakischen Volkes unterworfen werden. In der endgültigen Verfassung sind eine Reihe wichtiger Fragen zu regeln, die in der vorläufigen Verfassung mangels Konsens im Regierungsrat ungeklärt blieben. AZU
Welche Form wird der neue irakische Staat haben?
In der jetzigen Übergangsverfassung ist zwar das Prinzip des Föderalismus festgeschrieben, die genauen Grenzen dieses Konstrukts sollen aber später ausgehandelt werden. Der Status mehrerer von Kurden und Arabern beanspruchter Gebiete, wie etwa der erdölreiche Stadt Kirkuk, bleibt also ungeklärt. Die Kurden dürfen ihre bisherigen, bereits unter Saddam Hussein erstrittenen autonomen drei nördlichen Provinzen „in einem vereinten Irak“ zunächst aber weiter selbst verwalten.
Bei dem Streit um die Übergangsverfassung stieß sich die schiitische Bevölkerungsmehrheit vor allem an einem Passus, der der kurdischen Minderheit de facto das Recht gibt, gegen die später zu schreibende endgültige Verfassung ein Veto einzulegen, nachdem sie in einem Referendum von der mehrheitliche schiitischen Bevölkerung abgesegnet würde. Bei einer jüngsten Meinungsumfrage haben sich über drei Viertel der Iraker für einen geeinten Irak mit einer Zentralregierung ausgesprochen. GAW
Wann werden die ausländischen Truppen Irak verlassen?
Derzeit sind im Irak rund 150.000 ausländische Soldaten stationiert, darunter etwa 130.000 aus den USA (die übrigen kommen aus Großbritannien, Spanien, Australien, Italien, Bulgarien, Polen, Tschechien, Ungarn und der Ukraine). Das Pentagon kündigte Ende letzten Jahres die Verringerung der US-Truppenstärke auf 90.000 innerhalb des ersten Halbjahres 2004 an. Zugleich drängt die Bush-Administration andere Staaten zur Entsendung von Soldaten und bemüht sich um einen Beschluss der Nato zur „Übernahme von Verantwortung im Irak“.
Ob und wann diese Ankündigungen und Beistandsersuchen erfüllt werden, hängt in erster Linie von der weiteren Entwicklung der Sicherheitslage im Irak ab sowie davon, ob es nach den Terrorakten von Madrid zu ähnlichen Anschlägen in anderen Ländern mit Truppen im Irak kommen wird. In Washington sind auch Einschätzungen von Politikern und Experten zu hören, die eine starke ausländische Militärpräsenz im Irak mindestens für die nächsten fünf Jahre für erforderlich halten.
Sollte sich die Sicherheitslage im Irak im Laufe des Jahres allerdings deutlich verbessern – wofür es derzeit noch wenig Anzeichen gibt –, ist auch denkbar, dass der Großteil der ausländischen Truppen das Land bis Ende 2004 oder spätestens nach der Durchführung allgemeiner, freier Wahlen verlässt. Ob und wie viele US-Soldaten dann noch dauerhaft im Irak bleiben und welche militärischen Einrichtungen die US-Streitkräfte weiterhin nutzen können, ist abhängig davon, ob und mit welchen Detailbestimmungen das von Washington angestrebte Stationierungsabkommen mit der künftigen Übergangsregierung in Bagdad zustande kommt (siehe oben). Nicht völlig auszuschließen ist auch das Szenario, dass der UNO-Sicherheitsrat eine Mandat für eine internationale Truppe im Irak beschließt und dass die derzeitigen Besatzungstruppen – oder ein Teil von ihnen – unter diesem UNO-Mandat für eine vom Sicherheitsrat festgelegte Zeit im Irak verbleiben. AZU
Wer steckt hinter dem militanten Widerstand gegen die Besatzung?
Gut ausgerüstet mit Waffen aller Art und einer tödlichen Bestimmtheit hat sich der unsichtbare Gegner der US-Truppen als langatmiger und hartnäckiger erwiesen, als Washington ursprünglich angenommen hat. Die Operationen finden meist im so genannten sunnitischen Dreieck im Norden und Westen von Bagdads statt. Im kurdischen Norden und im schiitischen Süden können sich die ausländischen Truppen dagegen weitgehend unbehelligt bewegen. Verwendet werden meist Waffen wie Mörser und Panzerfäuste aus dem Arsenal, die die irakischen Armeeangehörigen in den letzten Kriegstagen einfach mit nach Hause genommen haben.
Hinter den Operationen steckt wohl eine Mischung aus Saddam-Loyalisten, Islamisten, arabischen Nationalisten und widerspenstigen Stämmen, die sich in ihren Traditionen bedroht fühlen und oft private offene Rechnungen mit den Besatzern begleichen. Der Schlüssel für die Tatsache, dass manche Operationen professionell koordiniert sind, liegt wahrscheinlich in der unkontrollierten Auflösung der regulären Armee durch die Amerikaner. Arbeitslose Berufssoldaten stellen ein gefährliches Potenzial dar.
Nach einer neuesten Umfrage befürworten offen 17 Prozent der Iraker Angriffe gegen das Besatzungsmilitär. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich weit höher. Dagegen finden die Attentate auf das UN-Hauptquartier, auf das Rote Kreuz, auf schiitische Pilger in Kerbala, kurdische Parteihauptquartiere und irakische Polizeistationen fast gar keine Zustimmung. Die meisten Iraker deuten in diesem Zusammenhang auf vermeintliche ausländische Kämpfer, die seit dem Krieg das Land infiltriert haben.
GAW
Wann kehrt die UNO in den Irak zurück?
Bislang machen zumindest die große Mehrheit der Mitglieder des Sicherheitsrats sowie Generalsekretär Kofi Annan eine Rückkehr von (nichtmilitärischem) UNO-Personal von drei Faktoren abhängig: einer deutlichen Verbesserung der Sicherheitslage; der Zuweisung substanzieller Verantwortung an die UNO, die mehr bedeutet als lediglich eine Funktion als Anhängsel oder Feigenblatt der Besatzer; und schließlich eine Einladung der künftigen Übergangsregierung. Kommt es dazu, wäre die vorrangige Verantwortung der UNO (neben humanitären Aufgaben) ab frühestens Juli dieses Jahres die Unterstützung der Iraker bei der Vorbereitung und Durchführung allgemeiner, freier Wahlen. AZU