DIE WAHLERGEBNISSE IN TAIWAN MÜSSEN ÜBERPRÜFT WERDEN
: Zu jung für „Florida“

Schlecht ist das taiwanische Wahlergebnis nicht. Das Wahlervolk hat erreicht, dass die durch ihre lange Regierungszeit unter der Militärdikatur verbrauchte Kuomintang nicht schon nach vier Oppositionsjahren wieder an die Macht zurückkehrt. Das sollte vor allem der innenpolitischen Entwicklung auf der südchinesischen Insel gut tun. Zugleich aber haben die WählerInnen den chinapolitischen Abenteuern des im Amt bestätigten Präsidenten Chen Shui-bian eine Absage erteilt.

Das war möglich, weil Chen über eine Volksabstimmung von den BürgerInnen verlangt hatte, einer Nachrüstung mit Raketenabwehrsystemen ihre Zustimmung zu geben. Begründet wurde das mit der Stationierung chinesischer Mittelstreckenraketen auf der anderen Seite der Taiwan-Straße. Doch sosehr sich die TaiwanerInnen darin einig sind, dass sie mit einer Pekinger Regierung nichts zu tun haben wollen, so sehr sind sie offenbar auch der Meinung, dass man eine chinesische Invasion nicht unnötig provozieren sollte. Peking hatte die Volkabstimmungen nicht ganz grundlos als Zeichen für den Unabhängigkeitskurs Chens interpretiert. Tatsächlich plant der taiwanische Präsident bereits ein Folgereferendum über eine neue Verfassung, die der Insel ein der Unabhängigkeit nahes Statut geben soll. Die Ablehnung der jetzigen Abstimmungen war also eine deutliche Aufforderung, den Konfrontationkurs aufzugeben.

Trotzdem gibt die Art und Weise des Zustandekommens des Wahlergebnisses Anlass zur Sorge. Wie schon vor einer Woche in Spanien war es ein wenn auch unvergleichlich harmloseres Attentat, das die Wahl entschied. Dabei kann keinesfalls als gesichert gelten, dass ein irrer Fanatiker dem Präsidenten und seiner Stellvertreterin nach dem Leben trachtete. Die Geschichte krimineller Wahlmanipulationen in Taiwan liegt noch nicht so lange zurück, dass nicht auch diejenigen, die diesen früher zum Opfer fielen, von ihrer Wirksamkeit wüssten. Chen wäre jedenfalls gut beraten, wenn er einer Neuauszählung der Stimmen zustimmen würde. Die junge taiwanische Demokratie kann sich ein „Florida“ nicht leisten. GEORG BLUME