: Sprachtrampel im Haus des Seins
Das Essen schmeckt nicht mehr „gut“, sondern „lecker“. Und „Kindergarten“ sagt man in den USA. In Deutschland sagt man „Kita“. Aber wieso eigentlich? Warum es keine Ostalgie ist, auf den aussterbenden Begriffen des deutschen Ostens zu beharren
VON JOCHEN SCHMIDT
Als Autor sollte man sprachliche Entwicklungen emotionslos zur Kenntnis nehmen und als sein Material verstehen, aber es gibt Dinge, die mich physisch anekeln. Viele dieser Erscheinungen kommen aus dem Westen. Das ist seltsam, denn noch in den 80ern habe ich meine Westcousins nach den neuesten Modewörtern ausgequetscht, um sie in der Schule zu verwenden. Ich war bestimmt einer der Ersten bei uns, die etwas als „ätzend“ bezeichnet haben. Heute kann ich mich mit den aus dem Westen herüberschwappenden Wörtern nicht mehr anfreunden. Ist so ein sprachliches Distinktionsbedürfnis schon Xenophobie?
Ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, die mich ästhetisch und natürlich auch sprachlich anödete. Wollte man nicht dazugehören, sprach man nicht wie „die Überzeugten“. In welchem Maß sich jemand mit dem System identifizierte, ließ sich an seiner Sprache erkennen. Auf subtile Art konnte man seine Gegnerschaft ausleben. Es war ja nicht verboten, zu sagen, was man wollte, man musste es nur geschickt anstellen. Jedenfalls war es eine Frage der Ehre, nicht so zu reden wie „die“.
Eigentlich war es eine Diglossie-Situation. Eine Sprache für Familie und Vertraute und eine offizielle für die Gesellschaft. Die offizielle Sprache war eine Art Abendgarderobe für bestimmte Zwecke, die nur die Uncoolen auch in der Freizeit benutzten. Sie taugte nicht mal zur Parodie, höchstens fürs Kabarett, in dem die Genossen über ihre eigenen Dummheiten lachten. Mich diesem Sprachgebrauch nicht anzupassen war ein Akt der Selbstbehauptung.
Mit der Wende kam dann die bisher umfassendste Sprachokkupation, die keinen Widerstand mehr zulässt. Denn sie wird von den Medien betrieben, zu denen es keine Opposition gibt.
Schon das Wort „Wende“ benutzte man anfangs nur in Anführungszeichen, weil es ja keine „Wende“ war. Bis man sich anpasste, weil es zu ermüdend war, dauernd gegen den Strom zu schwimmen. Das erste Wort von drüben, das dann alle infizierte, war „Teil“. Plötzlich war alles ein „supergeiles Teil“. Dann schmeckte das Essen nicht mehr „gut“, sondern „lecker“. Sicher, auch in der Odyssee steht: „Und sie erhoben die Hände zum lecker bereiteten Mahle“, aber ich könnte schwören, dass ich das Wort vor 89 nie benutzt habe, es klingt für mich nach wie vor irgendwie lasch.
Die Westberliner Hausbesetzer, die sofort in den Osten übersiedelten, pflegten ein infantiles Abkürzungskauderwelsch. Es hieß nur noch „Studi“, „Flugi“, „Touri“, „Demo“, „AB“, „O-Saft“. Manchmal klang das sehr kryptisch: „Bei Faschoalarm kein Alk und kein Kiff.“ Am schlimmsten waren diese gedehnten „Okäij“-Sager, die unser kerniges „Oke“ verweichlichten, genau wie sie aus dem traditionellen „Tach“ ein gesichtsloses „Hallo“ machten, wobei sie einem nicht die Hand reichten, sondern den Rücken streichelten. Sogar Begriffe wie „Plenum“, die ich nur aus der FDJ kannte, tauchten wieder auf, vermischt mit Kirchenrhetorik: „Ein Stück weit seinen Traum leben“. In einem Milieu, in dem Wörter, wie „schwullesbisch“ geprägt wurden, war man doch von „marxistischleninistisch“ nicht weit entfernt.
Das Frappierende daran war die Unsensibilität der Hinzugekommenen dafür, dass es an ihrem neuen Wohnort auch schon ein Leben und eine Sprache vor ihnen gab. Während ich mir am Münchner Flughafen aus Respekt vor dem fremden Ort ein widerwilliges „Grüß Gott“ abringe, kriegt von ihnen in Berlin anscheinend kaum einer mit, dass er nicht so redet wie die Urbevölkerung. Und von den westdeutschen Medien bekommen die Okäij-Sager Rückendeckung. Aber deswegen nur noch MDR zu gucken wäre natürlich ein zu großes Opfer.
In der DDR eroberten die Sachsen die Institutionen, sodass man ihren Dialekt auf allen Ämtern hörte, die man nicht freiwillig betrat. Heute kommt die sprachliche Nivellierung wieder aus dem Süden, wo sich seit Harry Valérien die mächtigsten Sportkommentatoren tummeln. Die Vokale werden gedehnt oder gekürzt, immer genau anders als bei uns. „Es bringt halt schonnn Spasss, sein Radl zu richten.“ Nein! Mir macht es eben keinen Spaß, mein Fahrrad zu reparieren!
Die Wendungen „an Weihnachten“ und „unter der Woche“, die mir besonders widerwärtig sind, haben sich inzwischen schon so verbreitet, dass man selbst Urberliner korrigieren muss. Bei einer Lesung stolperte ich in meinem eigenen Buch über ein „an Ostern“! Die Münchner Lektorin hatte mein „zu Ostern“ wohl für einen Fehler gehalten und stillschweigend korrigiert. Was sollten die Leser jetzt von mir denken?
Dieselbe Lektorin hatte auch nicht verstehen wollen, warum mein Held von einer „Kameradin“ träumte. Ich hatte das Wort mit Absicht gewählt (und nicht etwa „extra“), weil es für mich ein sehr warmer Begriff war, der mehr assoziierte als eine einfache Freundin. Für sie war es ein rechtslastiger Ausdruck. Natürlich, sie dachte an „Ich hatt’ einen Kameraden“, aber ich dachte an „Von all unsern Kameraden war keiner so lieb und so gut“, der kleine Trompeter, das Lied, bei dem wir alle weinten, als die feindliche Kugel kam, um ihn zu töten.
Wir konnten uns nicht einigen, aber warum soll man in Deutschland immer nur in die eine Richtung lernen? Warum muss man es hinnehmen, wenn von westlichen Sportreportern und Intellektuellen russische Namen konsequent verballhornt werden?
Dieselben, die sich bei Philip Roth die Zunge brechen, um das th hinzubekommen, machen aus Bulgakow einen Bullgakow, da waren wir im Osten schon mal weiter. Und der Berliner Bersarinplatz wird in der Straßenbahn (die natürlich nie „Tram“ hieß!) von der automatischen Ansage mit der Ignoranz einer Maschine zum Bersarinplatz erklärt. Man hätte ja auch mal fragen können. Aber wir dürfen wahrscheinlich schon froh sein, wenn die Bahn nicht auch wieder in „Pankoff“ hält …
Bei solcher Trampligkeit auf dem Gebiet der Sprache, die doch nach Heidegger das Haus des Seins ist, muss man sich über Einheitsfrust nicht wundern. Und es ist kein Trost, wenn seit der Wende in den Medien dauernd von „Nippel“, „Schwanz“ und „Saft“ die Rede ist, als sei es ein Zeichen von Befreiung, die Dinge so zu benennen.
Und keiner glaubt einem! Ausländern muss ich schon erklären, dass „Samstag“ dialektal für „Sonnabend“ ist; sie denken, ich spinne, weil sie es aus dem Fernsehen anders kennen. Jüngere Ostkollegen muss ich für ihr nachlässiges „eh“ schelten, das so schülerhaft klingt. Ich habe bis zu meinem 19. Lebensjahr nie „eh“ gesagt, sondern immer „sowieso“ oder als Berliner „wieso“. „Ist doch eh dasselbe“, antwortet mir die Generation Milchkaffee.
Aber ich halte störrisch an meinen aussterbenden Begriffen fest. Irgendwann werde ich mich so inadäquat ausdrücken wie meine Oma, die „bewichsen“ sagt, wenn sie „machen“ meint, ohne zu ahnen, welche rasante Entwicklung der Begriff inzwischen genommen hat. Aber es ist für mich eine Frage der Ehre, altmodisch zu sein, ich komme in meine klassische Phase. Ich werde immer „eine Selters“ bestellen und nie „ein Wasser“. Soll das vornehm klingen? So vornehm wie ein Kapitänsdinner auf dem Traumschiff.
Den Unterschied zwischen „Plastik“ (einer Skulptur) und „Plaste“ (einem Werkstoff) habe ich in der Schule gelernt. Mir wird keine „Plastiktüte“ über die Lippen kommen, auch wenn Microsoft-Word das gerne so hätte. Ich werde auch zu keinem „Flugzeug“ „Flieger“ sagen, weil es den immer wieder staunenswerten Vorgang des Fliegens zu einer Banalität abstempelt. Und warum darf es in Amerika „Kindergarten“ heißen (ein herrlicher Begriff für ein herrliches Konzept); und ausgerechnet in Berlin, wo ich in den Kindergarten gegangen bin, gibt es seit der Wende nur noch „Kitas“? Wer hat darüber entschieden?
Und dann diese albernen Euphemismen! Im Osten eine Domäne der Partei, heute sind dafür die Werbeagenturen zuständig. Ich löse keinen „Fahrausweis“, sondern loche eine „Fahrkarte“. Der Kaffee ist „billig“ und nicht „preiswert“. Ich will keinen „Steamer“ trinken, sondern eine heiße Milch mit Honig. Ist es böswillig, wenn ich in der Tatsache, dass Clubs heute „Läden“ sind, den allgegenwärtigen kapitalistischen Warenzusammenhang wittere?
Das Schlimme ist, dass sie einen mit ihrem Kauderwelsch schon selber durcheinander bringen. Hieß es nun „Führerschein“ oder „Fahrerlaubnis“? „Schwimmhalle“ oder „Schwimmbad“? „Trepptow“ oder „Treptow“? „Im“ oder „in“ Prenzlauer Berg? Auf jeden Fall nicht „am Prenzlberg“ (Abkürzung!). Unverzeihlich wäre es, sich da zu vertun.
Es sind nicht der Sprachwandel oder das Nebeneinander von Varietäten, was mich stört, sondern die geistlos nachgeplapperte Floskel. In meiner Jugend waren wir ironisch und sprachbewusst, ein Akt des Widerstands. Und später habe ich das Soziologiestudium nicht ertragen, weil es mir streckenweise wie ein Sprachkurs vorkam. Es ging nur darum, neue Bezeichnungen für längst Bekanntes zu lernen.
Deshalb bin ich zunehmend unerbittlich. Ich habe mich von einer Frau getrennt, weil sie anlässlich einer Spanienreise von „arabischem Sinnestaumel“ schrieb, und nicht, weil sie ohne mich gefahren ist. Für eine Welt, in der Zeitschriften Kultur pur genannt werden und in der für „Essen satt“ geworben wird, sehe ich nur noch den Ausweg der Definition eines neuen Sprachstandards auf der Grundlage eines literarischen Werks, wie es Dante für das Italienische geschaffen hat.
Und warum nicht einfach meine Bücher zu diesem Standard erheben?
Jochen Schmidt ist Schriftsteller. Zuletzt erschienen die Bücher „Müller haut uns raus“ (Beck Verlag) und „Seine größten Erfolge“ (dtv Premium)