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Archiv-Artikel

DIE GEWERKSCHAFTEN SCHÜREN AM 1. MAI DIE ANGST VOR DEM OSTEN Böses Omen für Europa

Manchmal können auch Zufälle symbolisch sein. Dass die Europäische Union ihre Erweiterung nach Osten just am Tag der Arbeit feierlich vollzog, war eigentlich nur Sachzwängen geschuldet. Als der Kopenhagener Gipfel den Termin vor anderthalb Jahren beschloss, war die Zeit für einen Beitritt zum Jahreswechsel schlicht zu knapp. Symbolisch ist das Zusammentreffen dennoch, steht das Datum doch just für jenes Thema, das den Bürgern Westeuropas beim Blick nach Osten die größte Sorge bereitet. Es ist die Angst um den eigenen Arbeitsplatz, der schon bald in die neuen EU-Staaten abwandern könnte.

Entsprechend vollmundig wetterten Gewerkschafter wie Michael Sommer oder Jürgen Peters am Wochenende, die EU-Erweiterung dürfe nicht Zustände „aus dem 19. Jahrhundert“ zurückbringen oder einen „Dumpingwettbewerb um Niedriglöhne“ auslösen. Auch die Debatte, die vor einigen Wochen über das Wirtschaftsdebakel in Ostdeutschland aufkam, hat die Zweifler bestärkt. Die motivierten Kräfte nehmen Arbeitsplätze im Westen ein, im Beitrittsgebiet bleiben nur Billigjobs, und die Milliardentransfers für Fördergelder ziehen auch die einst florierende Wirtschaft der alten Länder in den Abgrund: Ein schwarz gemaltes Bild der Wiedervereinigung erscheint in dieser Sicht als böses Omen für Europa als Ganzes.

Doch so einfach ist es nicht. Denn das neue, größere Experiment folgt einer gänzlich anderen Versuchsanordnung. Viele der Fehler, die bei der deutsch-deutschen Vereinigung aus politischen Gründen unvermeidbar waren, können schon wegen mangelnder Finanzen gar nicht wiederholt werden. Von jener halben Billion Euro, die nach Expertenschätzung in den deutschen Osten geflossen ist, können Polen oder Tschechen nicht einmal träumen. Und während die plötzliche Umstellung von Preisen und Löhnen die ostdeutsche Wirtschaft von einem Tag auf den anderen ruinierte, vollzieht sich die Anpassung im jetzigen Beitrittsgebiet nur langsam.

Welcher Weg erfolgreicher ist, wird sich erst in vielen Jahren abschließend beurteilen lassen. Aber erste Hinweise gibt es gerade in den Grenzregionen schon jetzt. Derzeit werden die ersten Arbeitnehmer, die aus Deutschland nach Polen fahren, noch als Exoten bestaunt. Angesichts der ostdeutschen Misere und der rasanten Entwicklung in den Beitrittsländern könnten es freilich bald mehr werden. Dann würde sich zeigen, dass der langsame Weg der wirtschaftlichen Angleichung für beide Seiten besser ist – für die Europäer im Osten wie im Westen. Darauf könnten auch die Gewerkschaftsführer ruhig hinweisen, statt am 1. Mai vor allem die Ängste zu schüren. RALPH BOLLMANN