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Archiv-Artikel

Das Unrecht der Römer

Hineinrasseln in die Katastrophe, Erschrecken über die Grausamkeiten der Geschichte: Stücke von Elfriede Jelinek, Heiner Müller und Georg Büchner standen am Anfang des Theatertreffens in Berlin

Marthaler zeigt in „Dantons Tod“ die Revolutionäre als Stubenhengste

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Das Buhrufen und das Bravoschreien: davon wird reichlich Gebrauch gemacht auf dem 41. Theatertreffen in Berlin. Als ob es richtige Profis dafür gäbe, die vor dem Theaterbesuch am Abend noch ein paar Stimmübungen machen, um dann so richtig tief loszulegen. Das Festival ist schließlich ein Höhepunkt des Theaterjahres. Und Höhepunkte gelingen nur, das weiß man ja, wenn man auch selbst ein wenig mitarbeitet.

Zehn deutschsprachige Inszenierungen (eigentlich neun und ein Tanzstück) werden jedes Jahr ausgewählt, in Berlin zu gastieren. Wofür man sonst nach Hamburg, Wien oder Düsseldorf fahren müsste, kann man nun mit eigenen Augen sehen und beurteilen: ob die Stücke, Regisseure und Schauspieler den Ruf halten, der ihnen vorauseilt.

Anders als der Film, ist das Theater noch immer zuerst eine regionale Angelegenheit: Der Wechsel vor ein Publikum in einer anderen Stadt kann in diesem Genre stets größere Schwankungen der Stimmung und Spannung zwischen denen da oben auf der Bühne und denen unten im Publikum auslösen.

Dieses „da oben“ und „da unten“ als ein Hierarchieverhältnis zu begreifen, das ist eine Sache der Autorin Elfriede Jelinek – die zu ihrer Lust an der Macht der da oben auch steht. Fünfmal waren in den letzten zehn Jahre Stücke von ihr eingeladen, Jossi Wieler, Frank Castorf und Einar Schleef die Regisseure. Diesmal ist ihrer monumentalen Sprachgewalt der junge Regisseur Nicolas Stemann mit einer kaum für möglich gehaltenen Leichtigkeit begegnet.

Libgart Schwarz gibt in „Das Werk“ die Rolle der Autorin: zierlich, blass und immer ein wenig verschreckt am Rand der Bühne agierend, kokettierend mit der Wut des Publikums. Denn sie rechnet mit dieser Wut wie mit einer zurückflutenden Welle, die durch den Druck ihrer Textmassen ausgelöst werden. Fast schon masochistisch ist ihre Erwartungshaltung, dass die Bosheit und der Hass, den sie aus den kleinen täglichen Gesten der Distinktion, aus all den Redewendungen der Abgrenzung, aus all der Rhetorik der Sprache der inneren Sicherheit nicht müde wird herauszupräparieren, sie einholen wird. Aber gegen diese Gewalt zu sticheln ist ihre Passion. Da wäre es am Ende fast schon unhöflich, wenn niemand Buh riefe.

Überhaupt: Gegen Gewalten anzutreten, die zunächst gezähmt, kanalisiert und gestaut werden müssen, um später dann gehandelt und verkauft zu können, ist nicht nur ihre Passion. Sondern der Trieb der Geschichte im Allgemeinen, die sie in „Das Werk“ am speziellen Fall der Österreicher studiert.

Alles in und an diesem Stück ist monumental: Die 160 Seiten Text, aus denen Stemann eine zweistündige Auswahl getroffen hat. Der Bau eines Wasserkraftwerks in Kaprun in den Fünfzigerjahren, von dem erzählt wird. Das Gletscherbahn-Unglück von Kaprun. Der Chor der Arbeiter, der plötzlich wie in einem gläsernen Schneewitchensarg in einer Vitrine auftaucht. Und nicht zuletzt der Ruf des Wiener Burgtheaters – die einzige Größe, die in dieser Inszenierung keinen Schaden nimmt.

Der Text ist ein polemischer Monolog: Als ob man der Sprache selbst bei der Arbeit zusehen würde, die Dinge in ihr Gegenteil zu verkehren. Natur und Naturgewalt werden im Allgemeinen genannt, was ein Effekt ihrer Zerstörung und Ausbeutung ist.

Jelinek lässt die euphorische Sprache des Aufbaus und ihre Ideologie der Verdrängung ständig zusammenrasseln mit der Kommentierung der Katastrophen. Auf der Bühne übernimmt das ein Team von drei Heidis und drei Petern, die den Text rappen, singen, in kabarettähnliche Nummern zerlegen und oft schneller sind, als man folgen kann.

Auch die Kulisse vor der Staudammmauer ist beängstigend: Man würde sich nicht wundern, die Toten, von denen immer die Rede ist, brächen durch sie hervor.

Das Spiel aber setzt nicht auf Hybris, ist doch der Glaube an die Reinigung und Läuterung der Seele durch Kunst selbst ein Teil der Ideologie von der Säuberung und Entsorgung der Vergangenheit. Deshalb verkleiden sich die Heidis zuletzt als Schneeflöckchen: Reinheit im Revue-Format.

Wie Hase und Igel verhalten sich Text und Inszenierung. Welche Karte auch immer die Regie spielen kann, die Autorin war schon vor ihr da, hat den Platz besetzt und das Blatt gewendet. Das zumindest legt die Lesart von Nicolas Stemann nahe. Er führt durch den labyrinthischen Text, nicht ohne offen zu halten, dass dies nur eine von vielen möglichen Touren in seine Tiefen ist. Wenn man auch nach zwei Stunden längst nicht alles verstanden hatte, so doch genug, um den Geist ständig in Trab zu halten.

Dies war leider anders am Abend der Eröffnung des TT, als Johan Simons mit „Anatomie Titus Fall of Rome. Ein Shakespearekommentar“ von Heiner Müller aus den Münchner Kammerspielen ins Haus der Berliner Festspiele kam. Man kann schon begreifen, warum diese Inszenierung des flämischen Regisseurs, der mit seinem Richard III. Anfang Juni auch das Festival „Theaterformen“ in Braunschweig und Hannover demnächst eröffnen wird, eingeladen war.

Der Wunsch, Simons’ Konzept des ästhetischen Gewaltverzichts zugunsten eines kalten Blicks auf die Mechanismen der Politik möge aufgehen, war groß – größer als die tatsächliche Kraft seiner Inszenierung, diesen Anspruch auch einzulösen. Titus Andronicus von Shakespeare ist berühmt-berüchtigt für die Leichen, die er hinterlässt. Und der Versuch, aus dem Bilderrausch der Gewalt und der Illustration der Grausamkeit auszusteigen und stattdessen in großer Nüchternheit zu analysieren, wie allem Erschrecken der Menschen über ihre eigene Mordlust zum Trotz die Logik des Machterhalts sie weitertreibt, schien auf jeden Fall auch eine angemessene Reaktion auf die Gegenwart: ein ethischer Rettungsversuch gegenüber dem Handel mit Ereignissen und skandalisierten Bildern.

Tatsächlich legt der Text von Heiner Müller nahe, statt auf die Illustration auf den Kommentar zu setzen, betrachten doch die Figuren schon sich selbst und ihre Strategien aus so großer Distanz wie der Sportkommentator das Fußballspiel. „Ich bin Titus Andronicus, der zuviel Tod gesehen hat“ und „wir taten mehr Unrecht, als ein Römer aushält“, so stellt der Darsteller des Titus, Andre Jung, sich gleich vor. Wie auch alle anderen Schauspieler sitzt er dabei in einer Zuschauerreihe auf der Bühne, ähnlich der Situation im Publikum. Sie spielen, was vom Drama übrig bleibt: Als wäre es der Kommentar auf eine Projektion, die sie gerade auf der Kinoleinwand sehen.

Als Schneeflöckchen verkleidet, wird der Wunsch nach Reinheit parodiert

Zwar lässt ihre Haltung den nächsten fatalen Schritt der Dramaturgie oft erahnen, aber verhindern können sie ihn nicht. Kaiser, Feldherrn und Intriganten handeln wie ausgeliefert an eine Regie, die stärker ist als ihr Wissen um die Falschheit ihrer Taten, und so setzen sie Rache auf Rache. Man sieht sie dabei ab und zu in den Reihen die Plätze tauschen, sich Entschuldigungen murmelnd an anderen vorbeischieben und hört, wie sie dabei über das nächste Mordkomplott und Vergewaltigung reden.

Aber, ein großes Aber: So schnell das Konzept einleuchtet, das wörtliche Verständnis des Textes, so bleibt doch der Verlauf der Geschichte, wer hier gegen wen intrigiert, im Unklaren. Kurz, der ganze Suspense, der diesen Polit-Thriller trägt, bleibt aus. Man versteht schlicht zu wenig, wer eigentlich wen spielt und was er von den anderen will, und rätselt darüber noch, da ist er schon umgebracht. Das ist nicht nur Gewaltverzicht und Bildverweigerung, sondern ein so weitgehender Entzug der Geschichte, dass das Zuhören schwer fällt und sich Langeweile breit macht.

Wie anders war da „Dantons Tod“ von Christoph Marthaler, der heute mit seiner Bühnenbildnerin Anna Viebrock den Berliner Theaterpreis verliehen bekommt (taz vom 7. Mai).

Auch „Dantons Tod“ dreht sich um jenen kritischen Moment der Geschichte, in dem Gewalt in etwas überführt werden muss, das ihren Diskurs durchbricht, das den Tod symbolisch ersetzt. Auch Marthaler ist alles andere als ein Illustrator: Danton und Lacroix, Robespierre und Saint Just erscheinen als müde Stubenhengste, am Schreibtisch ergraute Existenzen, mit hängendem Hosenboden und hängenden Pullovern. Aber in diesem Trauerspiel um eine Revolution, in der die Revolutionäre alle ursprüngliche Ziele über dem eigenen Machterhalt verraten haben, wartet man auf jedes weitere Wort, will keines der Sprachbilder von Büchner versäumen, hungert nach dem Text und bekommt ihn auch.

Gibt es eine richtige Strategie, um ein Festival zu besuchen? Man macht sich einen Plan, geht fünfmal innerhalb von sieben Tagen ins Theater und wartet sehnsüchtig auf den Moment, in dem ein bloßes kunstrichterliches Schauen – dies ist zu selbstverliebt, und das zu sehr Kopfgeburt – umschlägt in das Aufspüren eines Problems, dessen Bewältigung in ganz unterschiedlichen Stoffen durchschlägt. Da scheint diesmal vor allem in den Historiendramen etwas am Werk: ein erneuter Anlauf, um über das bodenlose Loch, das das Ende der Utopien hinterlassen hat, hinwegsetzen zu können.

Aber mitten in diesem Anlauf holt sie der Schrecken wieder ein, der Schrecken über die Grausamkeit des historischen Prozesses. Und die Welt außen – sie bestätigt diesen Geschichtspessimismus Tag für Tag.