crime scene
: Der Mörder in deinem Haus

Die viktorianische Periode war unter anderem das Zeitalter der Prüderie und des Horrors. Während die Frauen ihre Mieder immer fester schnürten, blühte die Gothic Novel. In ihrem Gefolge entstanden erste Kriminalgeschichten, Edgar Allan Poe machte einen Detektiv als literarische Figur populär, und auch Charles Dickens versuchte sich an ersten Detektivgeschichten. Da geschah 1860 ein Mord, der die englische Öffentlichkeit erschütterte und noch Jahre später viele Gothic-Autoren inspirieren sollte: In der Grafschaft Wiltshire war ein dreijähriger Junge mit durchschnittener Kehle in einem Abort gefunden worden. Der Mörder, so viel stand fest, stammte aus demselben Haushalt wie das Kind selbst. Das Kindermädchen wurde verhaftet und wieder freigelassen. Die Polizei hatte kaum handfeste Spuren, die verfolgt werden konnten, denn von Tatortsicherung im modernen Sinne wusste man noch nichts.

Die Autorin Kate Summerscale nimmt den spektakulären „Mord von Road Hill House“ zum Anlass, eingehend die sozialen Zeitumstände zu schildern. Angesichts der sehr detailreichen Hintergrunderläuterungen muss man als Leser lernen, seine Ungeduld zu zügeln. Denn so ausdauernd einerseits beschrieben wird, wie das Wetter war, welche Kleidung wer trug oder welche Rangordnung innerhalb der Polizei galt, so orientiert Summerscale sich doch gleichzeitig an einigen ehernen Spannungsregeln, die sie vom Kriminalroman übernommen hat, und lässt die Leser immer nur so viel vom Handlungsfortgang wissen, wie zu dessen Verständnis unbedingt nötig ist. Diese Kombination aus Kriminalroman und erzählter Sozialgeschichte ist, sobald man sich eingelesen hat, von unbestreitbarem Reiz.

Bereits im Titel des Buches macht Summerscale deutlich, dass sie auch das Anliegen verfolgt, posthum das Unrecht wiedergutzumachen, das dem ermittelnden Kriminalbeamten damals geschah. Jack Whicher, ein Polizist aus einfachen Verhältnissen, der sich einen Namen als geschickter Verbrechensaufklärer gemacht hatte – als Mitglied der ersten kriminalpolizeilichen Abteilung Englands, die erst wenige Jahre zuvor gegründet worden war –, wurde, nachdem die örtliche Polizei im Fall des ermordeten Kindes nicht weiterkam, in den Flecken Road geschickt, um die Ermittlungen voranzubringen. Dass er dabei intime Einblicke in das Leben eines großbürgerlichen Haushalts erhalten musste, war nach damaligen Anstandsbegriffen unerhört. Der tote Junge war der Sohn eines betuchten Fabrikinspektors. Die Provinzpolizisten, ungeschult in der Aufklärung von Kapitalverbrechen, hatten zunächst nur die Dienstboten des Hauses vernommen, die trauernden Herrschaften aber verschont. Nachdem dann Whicher eines der Familienmitglieder vor Gericht gebracht brachte, das anschließend mangels Beweisen freigesprochen wurde, war sein Ruf zerstört. Der einst so gefeierte Ermittler wurde auf unbedeutende Posten abgeschoben.

Summerscale gelingt jedoch noch mehr als die inhaltliche Rehabilitation des Polizisten. Sie bietet sogar eine plausible Lösung für den Mordfall an, der trotz eines Geständnisses und einer rechtskräftigen Verurteilung nie als letztgültig geklärt galt und den Zeitgenossen Anlass zu unendlichen Spekulationen bot. Auch Summerscales Hypothese wird sich, so plausibel sie scheinen mag, wohl nie beweisen lassen. KATHARINA GRANZIN

Kate Summerscale: „Der Verdacht des Mr. Whicher oder Der Mord von Road Hill House“. Aus dem Englischen von Alice Jakubeit. Bloomsbury Berlin, Berlin 2008. 431 Seiten, 19,90 Euro