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Archiv-Artikel

die letzte ruhe vor dem sturm (teil 4) Der Retter heißt Lothar Matthäus

Dank des 0:2 gegen die ungarischen Matthäus-Mannen fahren die deutschen Fußballer nicht mit breiter Brust, sondern mit gebührender Demut zur EM

Wie gut, dass es Lothar Matthäus gibt. Immer wenn der deutsche Fußball eine helfende Hand braucht, ist er da und greift beherzt zu. 1996 zum Beispiel, als der damals Verstoßene die Kollegen mit Verbalgrätschen aus der Ferne derart piesackte, dass sie vor Schreck Europameister wurden. Oder 1998, als er handstreichartig Olaf Thon aus dem Abwehrzentrum entfernte und wenigstens das Viertelfinale heraussprang. Oder 2000 bei der EM, wo er in seinem Bemühen, auf dem Liberoposten so alt zu werden, wie Willi Schulz schon immer aussah, der desorientiertesten Abwehr seit Tasmania 1900 vorstand und so den Neubeginn mit Rudi Völler einleitete. Auch jetzt vor der EM 2004 war Matthäus wieder zur Stelle und holten die deutsche Mannschaft gerade noch rechtzeitig auf den Boden der Realität zurück.

Den hatte sie nach Siegen über Malta und die Schweiz zügig verlassen, und als dann Ungarns Trainer, nämlich Lothar Matthäus, auch noch ständig betonte, wie viele Dutzend Spieler ihm davon gelaufen seien, schienen sie zu glauben, am Sonntag in Kaiserslautern auf eine Art maltesische U 21 zu treffen. Die Lehre der Partie auf dem Betzenberg war, dass eine deutsche Mannschaft, die sich zu sicher fühlt, selbst gegen eine maltesische U 21 mit 0:2 verliert. Teamchef Völler hatte vor der Partie gegen die Ungarn permanent auf die notorisch gespaltene Zunge seines einstigen Spielkameraden hingewiesen und sagte auch hinterher, dass Matthäus die Qualität seines Aufgebots schändlich untertrieben habe. Doch die Aufstellung gab eher Ungarns Coach Recht. Nur zwei der eingesetzten Spieler, Kiraly und Gera, hatten im Kader des letzten EM-Qualifikationsspiels gestanden, das die Ungarn im Oktober gegen Polen verloren. Es war tatsächlich die zweite oder gar dritte Garnitur, die Matthäus ins Spiel gegen die Deutschen geschickt hatte.

Der Schuss vor den Bug kam zur rechten Zeit. Nicht auszudenken, wenn das DFB-Team mit der Hoffart von Kaiserslautern am kommenden Dienstag ins Spiel gegen die Holländer gegangen wäre, die ihrerseits mit dem 0:1 in Amsterdam gegen Irland komplette Harmlosigkeit signalisiert hatten. „Wir sind nicht wie ein Vizeweltmeister aufgetreten“, kritisierte Kapitän Oliver Kahn gewohnt harsch die Darbietung gegen Ungarn. Das Gegenteil war der Fall. Spielerisch ist die deutsche Mannschaft ohnehin zum letzten Mal wie ein Vizeweltmeister aufgetreten, als sie Vizeweltmeister wurde – in Yokohama gegen Brasilien. Mental war die Partie gegen Ungarn jedoch pure Vizeweltmeisterei: Wir sind sowieso besser, also ergebt euch lieber, sonst machen wir Ernst! Ballack war nach seinen Toren gegen die indiskutablen Malteser offenbar der Meinung, er müsse jetzt ständig Mittelstürmer spielen. Hamann hielt sich augenscheinlich tatsächlich für den genialen Mittelfeldstrategen, zu dem ihn einige Kommentatoren ernannt hatten, und zeigte außerdem die prekäre Tendenz, fies um sich zu treten, wenn es schlecht läuft. Bei der EM gibt es da schnell Rot.

Rudi Völler schien gar nicht so unzufrieden damit, dass die Vorbereitungsphase auf diese Weise endete. Ein weiteres gewonnenes Spiel trotz durchwachsener Leistung, wie gegen die Schweiz, hätte nur die Flausen im Team genährt, den Schlendrian gefördert. Den psychologischen Schaden durch die Niederlage hält Völler für marginal. „Das war kein Debakel“, behauptete er in dem Wissen, dass man die letzten Vorbereitungsspiele der EM-Teilnehmer nicht allzu ernst nehmen darf. Außerdem verwies er auf die zweite Halbzeit, wo man „praktisch auf ein Tor gespielt“ habe. Was allerdings daran lag, dass sich die Ungarn im Wohlgefühl ihrer Führung komplett zurückzogen und den Deutschen gar nicht anderes übrig blieb als permanenter Angriff. Gerade da zeigte sich aber, dass der DFB-Mannschaft Kreativität, Schnelligkeit und Torgefährlichkeit fehlen, um eine massierte Abwehr mit einem starken Torhüter wie dem Hertha-Flüchtling Gabor Kiraly in nennenswerte Schwierigkeiten bringen zu können. Außerdem lieferte Völlers Team den Gruppengegnern peinlichen Anschauungsunterricht, wie leicht die deutsche Abwehrkette vor allem in Zentrum auszuhebeln ist. All das jedoch sind nicht unbedingt neue Erkenntnisse.

Das leidgeprüfte Betzenberg-Publikum trat den Heimweg recht frustriert an und war sich vermutlich nicht ganz sicher, ob es tatsächlich gerade die besten Fußballer des Landes am Werke gesehen hatte oder nicht doch eher den heimischen 1. FCK. Lothar Matthäus beschwor reichlich übertrieben das „Wunder von Kaiserslautern“, die deutschen Spieler hingegen zeigten sich ebenso wie ihr Chef relativ unbeeindruckt von der Pleite und mochten sich auch gar nicht richtig schämen. In Porto gegen Holland wird eine andere Mannschaft auf dem Platz stehen, so der allgemeine Tenor. Laut Oliver Kahn sogar der Vizeweltmeister. Vorrundenübersteher wäre angemessener. Das wird schwer genug. MATTI LIESKE