lost in lusitanien : Zum Feiern gezwungen
MATTI LIESKE über portugiesische Phrasendrescher, spanische Schadenfreude und den Mangel an Autohupensinfonien
„Ein Land am Rande des Nervenzusammenbruchs“, titelte die Lissaboner Zeitung Público nach einem EM-Auftakt, wie ihn sich die Portugiesen grausliger nicht erträumen konnten. Als erstes Gastgeberland einer Europameisterschaft ein Eröffnungsspiel verloren, und dies auch noch gegen den vermeintlich schwächsten Gruppengegner; damit in akute Gefahr gestürzt, als erstes Gastgeberland einer EM bereits in der Vorrunde auszuscheiden. Ein Stimmungskiller par excellence in einem Land, das sich nach einigen Wirrnissen während der EM-Vorbereitung zuletzt ziemlich vorbehaltlos auf dieses Turnier eingelassen und damit angefreundet hat. 93 Prozent der Portugiesen sind jüngsten Umfragen zufolge stolz darauf, dass die EM in ihrem Land stattfindet. Und nicht wenige davon waren der Meinung, dass ihre Mannschaft den Titel holt – bis zum Samstag, bis zum 1:2 gegen Griechenland in Porto. Ein Resultat, das die Partie gegen Russland am Mittwoch zum „Russischen Roulette“ für die Portugiesen werden lässt, wie kaum eine Zeitung versäumt festzustellen. „Bei einem derart kleinen Turnier kann man sich nur eine Niederlage leisten“, weiß auch Felipe Scolari, der brasilianische Trainer der Portugiesen, und verspricht, er werde sich Gedanken machen, wie sich das Spiel seines Teams verbessern lässt. Zur Beruhigung der bangen Gemüter sind solche Aussagen nicht unbedingt geeignet.
Aber keine Angst, die rot-grünen Fahnen in den Fenstern hängen noch und wurden bisher nicht durch griechische ersetzt, obwohl Otto Rehhagel dies im Glücksgefühl des unverhofften Sieges angeregt hatte – wenn auch eher für das Land, dessen Mannschaft er als Trainer vorsteht. Und zumindest die portugiesische Jugend hat sich die Festlaune nicht nachhaltig verderben lassen. Zwar gab es am Samstagabend in Lissabon keine fußballerischen Festgesänge oder Autohupensinfonien zu erlauschen, doch die partyfreudige Stadt lief bis spät in die Nacht förmlich über vor Menschen. Außer dem Fußball gab es immerhin noch das Fest des Stadtpatrons Antonius zu feiern, und während im Zentrum vor allem die englischen Fans lärmten und tranken, vergnügten sich in den Altstadtvierteln die einheimischen Jugendlichen, welche nachhaltig den Beweis antraten, dass nicht nur ausländische Touristen in der Lage sind, sich heftig zu betrinken und großen Radau zu veranstalten – ein Eindruck, der dieser Tage in Portugal gern erweckt wird. Die Gassen der Alfama zum Beispiel waren mit Menschen voll gestopft wie ein ausverkauftes Rockkonzert, ein Vorwärtskommen nur zentimeterweise möglich, so dass der Berichterstatter nach langer Auswärtsfahrt wegen kompletter Blockierung des Weges zur Heimstatt praktisch gezwungen war, noch ein wenig mitzufeiern. Bis in die frühen Morgenstunden des Sonntags hielt der Trubel an, und hin und wieder fanden sich sogar kleine Grüppchen in rot-grünen Trikots mit einer Figo-7 hintendrauf zusammen und skandierten etwas trotzig: „Portugal, Portugal!“
Ein bisschen Hoffnung lebt noch im Lande, obwohl den Portugiesen vor allem das letzte Gruppenspiel gegen Spanien Sorgen bereitet. Im Nachbarland werden schon Parallelen gezogen zur blamablen Vorstellung des spanischen Gastgeber-Teams 1982 bei der WM – nicht ohne Schadenfreude selbstverständlich. Immerhin hatten die Portugiesen die EM-Ausrichtung vor fünf Jahren den Spaniern vor der Nase weggeschnappt, und diesen wäre es so sehr ein Fest, die Gastgeber eigenfüßig aus dem Turnier zu befördern, wie den Portugiesen eine Pein. 0:3 hatten diese im September vergangenen Jahres den letzten Vergleich beider Teams verloren, man werde ein anderes Portugal bei der EM erleben, hatte es allenthalben geheißen. Ein allseits beliebter Satz, der selten zuvor so als Phrase entlarvt wurde wie bei Portugals Niederlage gegen Griechenland. Das Team von Scolari spielte, zumindest in der ersten Halbzeit, genauso wie in den schwachen Vorbereitungsspielen, ohne Tempo, ohne Spielwitz, ohne Drang zum Tor. Hinzu kam eine immense Nervosität. Es erwies sich, dass die Synthese des alten und des neuen Portugal längst noch nicht gelungen ist. Erst am Schluss stand die Mannschaft auf dem Platz, die eigentlich hätte beginnen müssen. Mutig mit zwei Spitzen statt einer, mit Spielern der neuen Generation wie Deco und dem 19-jährigen Cristiano Ronaldo anstelle der Alten Rui Costa und Simão. „Ich werde Änderungen in Betracht ziehen“, sagte Scolari, der offenbar eingesehen hat, dass ohne die Spieler der Zukunft die Zukunft bei diesem Turnier schnell vorbei sein könnte. Die bunten Fähnchen in den Fenstern würden dann nur noch den Stolz des Ausrichters symbolisieren, jedoch nicht mehr den eines Teilnehmers und Titelaspiranten. Gefeiert würde natürlich trotzdem.