: Ein bahnsinniges Abenteuer
In Dörfchen Schmilau gibt es die Erlebnisbahn Ratzeburg. Von Ostern bis Ende Oktober kann man sich hier auf einer Draisine durch die Landschaft pumpen, Konferenzen in alten Waggons abhalten oder auch eine Nacht im Schlafwagen verbringen
VON CHRISTINE LÜBBERS
Das Getriebe der Draisine quietscht. Die eisigen Temperaturen haben sie fast unbeweglich gemacht. Mit voller Muskelkraft bringt Oliver Victor den Handhebel in Schwung. Rauf und runter. Schnell und schneller. Bei gefühlten 14 Stundenkilometern bläst der kalte Fahrtwind um die Ohren.
Oliver Victor stört das nicht. Der 43-Jährige ist hier zu Hause: auf den Gleisen des zirka 600-Einwohner umfassenden Dorfs Schmilau. Genauer gesagt: Auf dem alten Bahnhof, denn hier hat der gebürtige Lauenburger vor elf Jahren begonnen, sich eine ganz eigene Welt zu schaffen.
Was mit der Idee begann, den alten Lokschuppen in Ratzeburg in ein Kultur- und Veranstaltungszentrum zu verwandeln, entwickelte der Computerspezialist mit einem Freund in eine andere Richtung weiter: Weil das Gebäude nur über den Schienenweg erreichbar war, bauten sie die erste Draisine, die die Besucher direkt an Ort und Stelle bringen sollte. Schnell kam die zweite hinzu. Victor entdeckte das Draisinenfahren für sich. Aus dem Kulturzentrum wurde indes nichts.
Victor pachtete die stillgelegte Bahnstrecke zwischen Ratzeburg und Schmilau und bot auf den 4,5 Kilometern Draisinenfahrten für Touristen an. Die Nachfrage stieg, die Anzahl der selbstgebauten Draisinen auch – bis die Gleise damit voll waren. „Dann gab es bei Aldi billig Fahrräder“, sagt Victor. „Wir sind zu fünft losgefahren und haben alle Fahrräder gekauft, die es gab.“ Er lacht über die Aktion, die damals aus der Not entstanden ist. Zu den Draisinen kam ein Fahrradverleih, zu den Fahrrädern kamen Spaßräder und Boote – und ausrangierte Eisenbahnwaggons.
Heute stehen auf dem Schmilauer Bahnhof 35 Waggons auf drei stillgelegten Gleisen. Zum Feiern, zum Konferieren, zum Übernachten, oder einfach zum Spaß haben. Ein Dorf im Dorf. Mittendrin: der Wohn-Waggon von Victor, Gründer und Geschäftsführer der Erlebnisbahn Ratzeburg GmbH, zu der neben Schmilau auch der Jugendbahnhof Hollerbek gehört. Neben seinem Waggon wohnt auch die Prokuristin seines achtköpfigen Unternehmens – ebenfalls in einem ausrangierten Waggon. „Ich wollte nie Lokführer oder so etwas werden. Das war alles Zufall“, sagt er über sein Leben auf dem Gleis. Durch den Verkauf seines Wohnhauses und die Aufnahme von Krediten konnte sich der heutige Eisenbahnunternehmer das alles selbst aufbauen.
Victors Anspruch ist es, „die Leute zu ungewöhnlichen Sachen zu motivieren“. Und das in der Natur und mit Muskelkraft. Einen typischen Gast gibt es nicht auf seinem Abenteuerbahnhof. Jugendgruppen, Schulklassen, Familien und Unternehmen – auch Bahnbedienstete – lassen sich auf die Kuriositäten in Schmilau ein: In ausrangierten Schlafwaggons auf kleinster Fläche zu dritt zu übernachten, in der „Straßenbahn der Sinne“ seinem Auge nicht immer zu trauen oder in einem der Partywaggons am womöglich längsten Kickertisch Norddeutschlands mit zwölf Leuten zu spielen. Nicht zu vergessen: die große Anzahl an selbstgebauten Draisinen und Fahrrädern jeglicher Art, die man dort auch ohne eine Übernachtung mieten kann. Victor war mit der Idee Vorreiter. Inzwischen gibt es in Deutschland um die 25 Anbieter dieser Art.
Auf den zwei Bahnhöfen kommen ständig neue Attraktionen hinzu. Im Moment plant Victor den Bau einer Sauna, die in eine alte Lok einziehen soll. Badelandschaft inklusive. Alles ist in Schmilau und Hollerbek möglich – wenn auch zum Missvergnügen von Anwohner und Behörden. Im letzten Jahr kamen 48.000 Bahnsinnige, wovon fünf Prozent über Nacht blieben. Eigentlich müsste es die zwei Gemeinden erfreuen, dass im Dorf endlich was passiert. Tut es aber nicht.
Seit der Gründung werden Victor Steine in den Weg gelegt. „Als der erste Waggon anreiste, gab es hier schon Ärger“ erinnert er sich. Die Gemeinde fragte, was aus dem Gelände werde, wenn er pleite ginge: „Wohin dann mit dem ganzen Schrott?“ Stets gab es Schwierigkeiten bei der Durchsetzung seines Vorhabens, den Bahnhof zu erweitern und daraus eine Art Herberge zu schaffen. Denn eine Beherbergungsgenehmigung erhalten nur solche Bauobjekte, die fest mit dem Erdboden verbunden sind. Wohnraum auf Schienen ist im Gesetz nicht vorgesehen.
Vor zwei Jahren, im neunten Jahr seines Unternehmerdaseins, hat Victor die Genehmigung für den Bahnhof Schmilau erhalten. Seitdem refinanziert sich das Projekt. Die Stimmung in der Gemeinde und in den Behörden ist trotzdem nicht viel besser geworden. „Wenn die mich schon sehen, kriegen die einen Hals“, sagt Victor. Die hohe Anzahl an Gästen, die am Wochenende auch mal das doppelte der Einwohnerzahl des kleinen Ortes betragen kann, ist vielen Schmilauern ein Dorn im Auge: Parkverbotsschilder wurden aufgestellt, die Hinweisschilder, die den Weg zur Erlebnisbahn zeigen, wurden abmontiert. „Damit ja nicht mehr Gäste kommen“, meint Victor ironisch.
Ganz zu schweigen von den Beschwerden wegen Lärms, die ihn immer wieder erreichen. Dabei ist aber nicht jener übliche Lärm gemeint, der nach 22 Uhr und je nach Windrichtung in den Ortskern dringt. Es ist die gute Laune der Gäste, die mit den Konferenzrädern durch den Ort radeln. Dabei sitzen sechs Radler strampelnd im Kreis, fahren aber in eine Richtung. „Wir hatten auch schon Frauengruppen hier, die kreischend vor Lachen durch den Ort geradelt sind und sich nicht mehr einkriegen konnten“, gibt Victor zu. Die Nachbarn beschwerten sich: Das Gelächter sei noch schlimmer als der Verkehrslärm.
Victor stellte kurzerhand ein Schild an die Ausfahrt seines Bahnhofs mit der Aufschrift: „In dieser Straße ist das Lachen verboten. Bitte geben Sie sich Mühe, genauso ernst zu schauen, wie die Nachbarn.“
Doch der nächste Ärger droht dem urigen Anwesen schon: Falls die Fehnmarnbelt-Brücke wirklich kommt, will die Bahn 2017 die stillgelegten Gleise zwischen Kiel und Berlin wieder aktivieren. Darunter fallen auch die Abschnitte, die Victor gehören. Doch Victor lässt sich nicht unterkriegen. Er ist überzeugt: „Wenn 40.000 Leute die Strecke nutzen – sei es als Freizeitmöglichkeit oder sonst was – dann wird es schwierig, sie wieder aufzunehmen.“