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Archiv-Artikel

Die Liebe des Herrn Stilett

Hans Stilett hat die „Essais“ und das „Tagebuch einer Reise nach Italien“ von Michel de Montaigne neu übersetzt und den tiefsinnigen Nicht-Philosophen damit wieder zugänglich gemacht. Nun gastiert der Übersetzer zwei Abende lang im Norden

„So etwas hatte es noch nicht gegeben: einen Philosophen, der bestreitet, Philosoph zu sein; einen Nichtpädagogen, der zum pädagogischen Pionier wird; einen Schriftsteller, der seine Texte als Exkremente eines vergreisten Geistes bezeichnet und doch eines der lebendigsten und gedankenreichsten Werke der Weltliteratur daraus zu formen weiß; einen Mann schließlich, den zwei sich blutig bekriegende Könige zum Kammerherrn erwählen, was er dazu nutzt, entscheidend zur Befriedung seines Landes beizutragen!“

So beginnt Hans Stilett seine „Wanderungen durch Montaignes Welten“, wie er seinen Band „Von der Lust auf dieser Erde zu leben“ im Untertitel bezeichnet. Mit diesem Buch geht gut ein Vierteljahrhundert zu Ende, in dem sich der einstige Mitarbeiter des Bundespresseamtes mit wenig anderem beschäftigt haben dürfte als mit den niedergeschriebenen Hinterlassenschaften sowie, nicht eben nebenbei, dem Leben des Staatsmannes, Viel-Lesers und Philosophen Michel de Montaigne (1533–1592). Einer Liebe auf den ersten Blick sei er gefolgt, schreibt Stilett über sein 1998 zu Ende gebrachtes Großprojekt: die erste moderne Gesamtübersetzung der Montaigne’schen „Essais“.

Bis dahin waren diese insgesamt 107 kurzen Abhandlungen und Sentenzen, erstmals erschienen zwischen 1580 und 1588, auf deutsch vor allem in mehr oder minder überzeugenden Auswahlbänden erhältlich; da gerieten Montaignes hellsichtigen, noch das denkbar Profanste nicht meidenden Erörterungen auch schon mal in die Nähe von kalendertauglichen Sinnspruch-Sammlungen. Gewissermaßen als Abfallprodukt der Feierlichkeiten zum 400. Todestag des Autors lag seit 1992 dann noch die erklärtermaßen erste deutsche Gesamtübersetzung jenes Montaigne’schen Hauptwerks wieder vor – die allerdings auch schon aus dem Jahr 1754 stammt und nicht erst aus heutiger Sicht allerlei krude Übersetzungsmängel aufweist.

Aber zurück zur Liebe des Herrn Stilett: Die habe sich verfestigt und vertieft, so fährt er fort, „mit jeder Zeile, die mich weiter in dieses Wunder an Weisheit und Gewitztheit führte“. Ohne Auftraggeber und ohne sonst von irgendwem dafür bezahlt zu werden, machte sich der damals frisch pensionierte Stilett, der eigentlich Hans Adolf Stiehl heißt, auf eigene Faust daran, die editorische Lücke zu schließen. Ein paar Zufälle und glückliche Wendungen später gelangten Teile seiner Arbeit auf den Tisch von Hans-Magnus Enzensberger, und in dessen „Anderer Bibliothek“ kamen die „Essais“ in Stiletts Übertragung dann heraus – als Bibliophilen-Traum in großem Format und aufwändigem Druck. Zwei für den Bahnhofsbuchhandel geeignete Taschenbuchausgaben der Stilett-Übersetzung sind heute längst wieder vergriffen.

Ausgerechnet der, nun ja, Volksaufklärer Harald Schmidt sah sich genötigt, die vielleicht ja wirklich schöner anzusehende als auch praktisch zu handhabende Pracht-Ausgabe gegen entsprechende Anwürfe aus dem Feuilleton der Süddeutschen zu verteidigen. Das mag einen Hinweis darauf geben, worin der eigentliche Wert des Stilett’schen Lebenswerks auch für Nicht-Buchwissenschaftler besteht: darin, den stets scharfsinnigen, manchmal derben, gelegentlich zur Albernheit bereiten und durchweg von einer gelassenen Milde gegenüber seinen Gegenständen geprägten Menschenkenner wieder zugänglich zu machen. Der erklärte Nicht-Philosoph schloss in seinen Versuchen über den Menschen im Allgemeinen und sich selbst im gar nicht mal so Besonderen ja gerade ein, was in seinen Augen die Philosophie stets allzu sehr vernachlässigt hatte: den Körper mit all seinen Anteilen –auch jenen unter seinen Funktionen, Ausscheidungen und Defekten, die längst nicht nur im Frankreich des 16 Jahrhunderts als wenig konversationstauglich galten.

Schon bei Erscheinen der „Essais“ hatte Stilett einen ergänzenden Kommentarband angekündigt. Erstmal legte er dann aber 2002 die Übersetzung von Montaignes „Tagebuch einer Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland“ vor: auch so eine Preziose mit denkbar bewegter Publikations- und Übersetzungsgeschichte. Das Reisen, heißt es darin, sei eine ersprießliche Betätigung: „Der Geist übt sich dabei ständig in der Beobachtung neuer, ihm unbekannter Dinge.“

Nicht von ungefähr wählt der inzwischen 86-jährige Stilett für den nun doch noch erschienenen Nachtrag zur eigenen Montaigne-Befassung den Begriff der „Wanderungen“: Des großen Franzosen „Denk- und Darstellungsbewegung“, so Stilett, soll in all ihrer scheinbaren Sprunghaftigkeit und mit all ihren vermeintlich fehlenden roten Fäden eingefangen werden. Die Reise als essayistische Daseinsform begriffen werden.

Montaigne hat unterstrichen, das Reisetagebuch bilde mit seinen „Essais“ eine Einheit, und wer diese lese, erfahre auch alles über jenes. So mag nun auch in Stiletts vorerst letzter Auseinandersetzung – nein: Wanderung auf Montaignes Spuren – viel vom Autor selbst stecken. Zu überprüfen ist das, wenn Stilett „Von der Lust auf dieser Erde zu leben“ nun auch im Norden vorstellt. Die Begegnung mit einem, der nun wirklich mal in seiner Arbeit aufgeht, winkt allemal. ALEXANDER DIEHL

Di, 27. 1., 20 Uhr, Kunsthalle zu Kiel, Mi, 28. 1., 19 Uhr, Hamburg, Literaturhaus (ausverkauft!)