: Duell auf Augenhöhe
Weil sich die beiden besten Radfahrer der Gegenwart erbarmungslos duellieren, holt die Tour 2003 all das an Dramatik und Spannung nach, was in den letzten Jahren schmerzlich vermisst wurde
aus Pau SEBASTIAN MOLL
Walter Godefroot ist nun seit 30 Jahren bei der Tour de France mit von der Partie und hat dabei viel erlebt. Er ist selbst gegen Eddy Merckx gefahren, hat Olaf Ludwig zu Etappensiegen und Jan Ullrich zum Gesamtsieg geführt. Doch so etwas wie am Montag hat er noch nicht gesehen: „Ich saß im Mannschaftswagen“, gestand der 60-Jährige, „schaute auf meinen Fernsehmonitor und dachte: Mensch, sind das tolle Bilder.“
In die Gesichter der Fahrer, so Godefroot, habe er geschaut, und was er dort sah habe ihn begeistert. In das Gesicht von Armstrong, der gestürzt war und für Sekunden die Tour verloren geglaubt haben muss. Der dann wie von Sinnen, mit einem „unheimlichen Adrenalinschub“, wie er selbst sagte, nach vorne stürmte und sich einhämmerte: „Du musst heute die Tour gewinnen.“ Und der unter diesem Schock Kräfte wieder fand, an die er selbst nicht mehr geglaubt hatte.
In das Gesicht von Jan Ullrich, dem sich nach dem Zeitfahren vom Freitag und seiner Attacke vom Samstag plötzlich, unerwartet, die Möglichkeit eines zweiten Tour-Sieges eröffnet hatte. Der dadurch beflügelt am vorletzten Berg des Tages, dem Tourmalet, die Chuzpe hatte, Armstrong anzugreifen und ihn dabei sogar vorübergehend abschütteln konnte. Und der dann doch wie versteinert beobachten musste, wie Armstrong nach seinem Sturz an ihm vorbeischoss. Dessen Beine sich plötzlich wie Blei angefühlt haben müssen – und der sich dennoch dazu zwang, Armstrong unter Aufbietung allerletzter Reserven nachzusetzen. Und schließlich in das Gesicht von Alexander Winokurow, der schon am Tourmalet für seine furchtlose Fahrweise der vorangegangenen Tage büßen musste und der verzweifelt um jede Sekunde rang – und doch Sekunde um Sekunde verlor.
Ullrich wollte an diesem Tag eine Entscheidung. Armstrong ebenso. Und dennoch fiel sie nicht. „Nach dem Wochenende sah es für Ullrich besser aus, jetzt sieht es für Armstrong ein wenig besser aus“, sagte Walter Godefroot am gestrigen Ruhetag. Mehr nicht. „Das könnte so ähnlich werden wie 1989, als Greg LeMond am letzten Tag im letzten Zeitfahren die Tour um acht Sekunden gewann“, glaubt Erik Zabel. Und auch die beiden Hauptakteure glauben das: „Es ist noch alles offen“, sagt Jan Ullrich, der jetzt zwar eine Minute und 7 Sekunden Rückstand hat, jedoch beim ersten Zeitfahren Lance Armstrong eine Minute und 35 Sekunden abnehmen konnte.„Die Tour ist erst auf den Champs Elysées zu Ende“, meint auch Armstrong, dem es gar nicht passt, wie die Sache in diesem Jahr läuft: „Die Probleme und Zwischenfälle reißen einfach nicht ab. Ich hoffe, das ist jetzt endlich vorbei.“
Wie in den Vorjahren hätte er gerne beim ersten Zeitfahren und in den Alpen einen deutlichen Vorsprung auf seine Gegner herausgefahren. Doch es fehlt ihm die überragende Form – und das Unglück kommt dazu: Stürze, Pannen in der Abstimmung der Mannschaft, drückende Hitze, mit der Armstrong nicht gut zurecht kommt. Bei dieser Tour läuft alles anders – und man gewinnt den Eindruck, dass sie alles an Spannung und Dramatik nachholt, was sie in den vergangenen vier Jahren vermissen ließ.
So kristallisiert sich die Tour 2003 als der lange erwartete große Zweikampf der beiden Fahrer heraus, die die gegenwärtige Epoche des Radsports bestimmen. 2000 und 2001 war Ullrich Armstrong nicht gewachsen, in diesem Jahr begegnen sie sich auf Augenhöhe. Am Montag, auf den 17 Kilometern von Luz St. Savur hinauf nach Luz Ardiden, entfaltete sich das ganze Drama dieser seit Jahren schwelenden Rivalität in einem denkwürdigen Schauspiel: Beide Männer wollen wissen, wer der Bessere ist, der Beste. Sie wollen es wirklich wissen – und deshalb zögerte Ullrich auch nicht einen Augenblick, auf Armstrong zu warten, als dieser sich mit einem Zuschauer verhedderte und auf den Asphalt schlug. Es war eine Sekundenentscheidung, instinktiv getroffen, nicht bewusst oder reflektiert. So wie Armstrong sich instinktiv berappelte und ohne jede Schrecksekunde wieder auf die Verfolgungsjagd machte – und Ullrich gleich auch noch davonzog.
„Wer attackieren kann, muss attackieren“, kommentierte Ullrich Armstrongs Angriff, nachdem er auf den Amerikaner gewartet hatte. Als Armstrong aufgeholt hatte, war der sportliche Wettstreit wieder eröffnet, mit gleichen Chancen für alle. Und so lange dieser läuft, schenken sich Ullrich und Armstrong keinen Zentimeter.