: Wieder ein Rucker auf Schloss Bellevue
In seiner Antrittsrede als neunter Bundespräsident wandelt Horst Köhler auf den Spuren des Alt-Ruckers Herzog: Er verlangte Opfer aller, weil der Sozialstaat sich übernommen habe. An die Union richtete er die Mahnung, sich vollständig zu erklären
AUS BERLINULRIKE WINKELMANN
Den herzlichsten Applaus im Plenarsaal der Bundestags bekam die Konsenskandidatin: Christina Rau. Gemäß der Regel, dass die Frauen am meisten geschätzt werden, die den Männern keine Posten wegnehmen, musste in den Lobesreden auf den scheidenden Bundespräsidenten Johannes Rau nur der Name seiner Gattin genannt werden – und schon rührten sich die Hände.
Doch auch dem neuen Bundespräsidenten Horst Köhler gelang es gestern in seiner Antrittsrede, die Mienen auf Seiten der rot-grünen Koalition ab und zu aufzuhellen. Er nutzte das sicherste Mittel: Fußball. „Die gute Nachricht“ von der Fußball-Europameisterschaft laute, dass der dort genutzte, nahtlose Ball eine „Spitzenleistung deutscher Materialforschung“ sei. Da lachte dann auch der Kanzler launig.
Der Ball diente Köhler als Beispiel dafür, was seiner Meinung nach wieder gelingen müsse: Ideen zu verwirklichen, dass Arbeitsplätze entstehen. Dass „made in Germany“ wieder weltweit etwas gelte. Dass Deutschland wieder ein „zuversichtliches und zupackendes Land“ sein müsse. Dass „wir nicht zum Brachland der Ideen werden“.
Seine gesamte erste Rede als neunter Bundespräsident widmete der Exchef des Internationalen Währungsfonds den Motiven (in alphabetischer Reihenfolge): Aufbruch, Freiheit, Gemeinschaft, Globalisierung, Idee, Kraft, Kinder, Mut und Zutrauen. Der „Ruck“, den sein Vorvorgänger Roman Herzog verlangt hatte, kam als Zitat vor.
Was Köhler mit all dem meinte, wurde eher im Kapitel „Internationales“ deutlich als bei „Innen und Soziales“. Köhler, der die vergangenen Jahre in den USA gelebt hatte, verlangte einen „neuen Dialog mit Amerika“. Auf die Irakpolitik der USA oder der Bundesregierung ging er nicht ein, er sagte: „Niemandem kann an einem Zerrbild Amerikas gelegen sein.“
Köhler versprach, er werde sich für eine „weitere Öffnung der Märkte für arme Länder“ einsetzen und für „mehr Entwicklungshilfe“, insbesondere für Afrika. Denn das Maß der „Menschlichkeit unserer Welt entscheidet sich am Schicksal Afrikas“.
Welches Maß an die Innenpolitik anzulegen sei, deutete Köhler lediglich an. Die Agenda 2010 „weist in die richtige Richtung“, erklärte er, und die Regierungsbank lachte ironisch-geschmeichelt. Unbehaglich blieb der Applaus von dort auch, als das CDU-Mitglied Köhler das einzige Mal seine eigene Partei kritisierte: Die Opposition, sagte er, brauche den „Mut, ihre Vorschläge vollständig klar zu machen“.
„Der Sozialstaat“, erklärte Köhler, sei eine „zivilisatorische Errungenschaft“. Doch „er hat sich übernommen“. Da soziale Härten unvermeidlich seien, „müssen wir darauf achten, dass alle Verantwortung tragen und Opfer bringen – entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit“. Hier rückte Köhler unerwartet nah an Vorgänger Rau, der in seiner Abschiedsrede erklärt hatte: „Solidarität ist mehr als das Bündnis der Schwachen mit den Schwachen.“ Allerdings hatte Rau kein Plädoyer für die Agenda 2010 gehalten, durch Sozialabbau die Konjunktur anzukurbeln und so Arbeitsplätze zu schaffen.
Wenn man Raus Signalworte einordnen mochte, so ließen die sich am Tag nach der Einigung auf die Arbeitsmarktreform „Hartz IV“ eher als Warnung vor einer Massenverarmung verstehen: „Schlimmer noch als Arbeitslosigkeit ist, wenn Menschen keinen Platz in der Gesellschaft finden“, sagte Rau.
Ihn hatte zuvor Bundestagspräsident Wolfgang Thierse als „wirklichen Bürgerpräsidenten“ gelobt. An Köhler richtete Thierse nur folgende Worte: „Ihnen habe ich heute noch keine Laudatio zu halten.“ Seine Erleichterung darüber konnte der Sozialdemokrat kaum verbergen.