: In die Radarfalle getappt
Jean-Marie Leblanc, gestrenger Direktor der Tour de France, schickt die Radprofis Stefano Casagrande und Martin Hvastija, gegen die in Italien Dopingverfahren eröffnet wurden, nach Hause
AUS LIMOGES SEBASTIAN MOLL
Im Pariser Vorort Issy les Moulineaux, in den Büroräumen von Amaury Sports, der veranstaltenden Organisation der Tour de France, traf am Samstagvormittag ein Fax aus Padua ein. Glaubt man Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc, war die Direktion der Tour am zweiten Samstag des Rennens nicht besetzt, und so fand man das Schreiben des Staatsanwaltes Luigino Lambranzi erst am Montag, dem ersten Ruhetag der Tour. Das war praktisch, denn so überschattete die Nachricht, die das Fax enthielt, keine schönen Sportreportagen von einer spannenden Etappe durch eine bezaubernde Landschaft.
Lambranzi wollte Mr. Leblanc mitteilen, dass gegen die Radrennfahrer Stefano Casagrande und Martin Hvastija, die gerade die ersten 1.400 Kilometer der Tour heruntergestrampelt hatten, in Padua ein Verfahren wegen Dopings eingeleitet wird. Leblanc nutzte daraufhin die Bühne des sportfreien Tages und setzte sich im Pressezentrum von Limoges wirkungsvoll als Hardliner der Dopingbekämpfung in Szene. Er habe, verkündete er, den Mannschaften mitgeteilt, dass die Fahrer nunmehr unerwünscht seien. Am Dienstag früh fuhren die beiden heim, nicht jedoch, ohne Leblanc ein juristisches Nachspiel anzudrohen.
Casagrande und Hvastija waren bereits der vierte und der fünfte Fahrer, die Leblanc während dieser Tour nach Hause geschickt hat. Der Baske Gorka Gonzalez war bei der Blutkontrolle zum Tour-Start auffällig geworden, dem Italiener Danilo di Luca wurde nahe gelegt abzureisen, weil auch gegen ihn in Italien ermittelt wird. Der Belgier Christophe Brandt, der am Samstag die Koffer packen musste, wurde als Einziger der Verbannten positiv getestet – ihm wurde die Einnahme von Methadon nachgewiesen.
Jean-Marie Leblanc ist seit der Dopingaffäre von 1998 sehr vorsichtig geworden. Weil die sporteigenen Kontrollinstanzen nicht funktioniert hatten, war damals der Staat tätig geworden, hatte das Fahrerfeld auf den Kopf gestellt und dabei den Fortbestand der Tour gefährdet. Die Tour hatte seitdem in Zusammenarbeit mit dem Radsportverband UCI und dem französischen Verband ein dichtes Kontrollnetz, einen Katalog vorbeugender Maßnahmen und einen Ethik-Kodex in Kraft gesetzt. Genützt hat es nur bedingt etwas: „Wir haben jetzt so etwas wie ein Radarsystem im Straßenverkehr“, sagt Roger Legeay, ehemaliger Rennfahrer und heute sportlicher Leiter bei der französischen Mannschaft Crédit Agricole. „Es wird sicher gestellt, dass keiner mehr über 130 fährt und dass die schlimmsten Rowdys aus dem Verkehr gezogen werden. Aber Doping wird es immer geben.“
Als Radarfalle behält sich die Tour de France vor, Fahrer, gegen die Verdachtsmomente vorliegen, auszuladen. Dadurch möchte das Milliardenunternehmen Tour de France sein Ansehen schützen und einem Eingreifen der französischen Behörden vorbeugen. Allerdings gerät Leblanc durch diese Politik in Rechtfertigungsnot. Man kann ihm Willkür vorwerfen. Warum etwa hat er Danilo di Luca ausgeladen und nicht Lance Armstrong, dem in einem neuen Buch Epo- sowie Kortisondoping angelastet werden? Di Luca arbeitete mit dem Sportmediziner Santucchione zusammen, dem Doping nachgesagt wird. Ebenso wie Armstrong mit dem übel beleumundeten Michele Ferrari zusammenarbeitet und Jan Ullrich mit Luigi Cecchini. Warum mussten Casagrande und Hvastija fahren und nicht der Mannschaftskamerad Armstrongs, Pavel Padrnos, oder die Italiener Andrea Peron und Stefano Zanini, gegen die ebenfalls seit der Razzia der italienischen Behörden beim Giro d’Italia 2001 ermittelt wird?
Gegen Padrnos, Zanini und Peron sei noch kein Verfahren eingeleitet, so die offizelle Begründung, allerdings gilt das Gleiche für Danilo di Luca. Als Leblanc di Luca persönlich dessen Ausschluss mitteilte, begründete er seinen Schritt mit den Worten: „Wenn du eine Etappe gewinnst, redet die ganze Welt nur über Doping.“ Als di Luca erwiderte, er werde klagen, sagte Leblanc: „Tu, was du willst, ich nehme das Risiko auf mich.“
Die Tour der France ist in einer ähnlichen Zwickmühle wie beispielsweise die amerikanische Leichtathletik. Der US-Verband will auch mit einem sauberen Team zu Olympia nach Athen, um sein angekratztes Image aufzupolieren. Dazu muss er jedoch Athleten zu Hause lassen, gegen die zwar Verdachtsmomente vorliegen, denen aber bisher nichts nachgewiesen werden kann. Das Grundrecht auf ein ordnungsgemäßes Verfahren ist somit außer Kraft gesetzt. Die New York Times verglich diese Politik mit der paranoiden Verfolgung von angeblichen Kommunisten unter Senator McCarthy in den 50er-Jahren. Der Radsport steht in der öffentlichen Wahrnehmung schon lange unter Generalverdacht. Leblanc beginnt diesen Generalverdacht zu institutionalisieren.