: Erst Spatz, dann Raubvogel
Schluss mit der Deutschstunden-kompatiblen Pubertätsromantik und dem Autor-seiner-Generation-Schwachsinn, her mit dem Leben und den düsteren Zukunftsvisionen: Benjamin Leberts lang erwarteter zweiter Roman „Der Vogel ist ein Rabe“
von HENNING KOBER
Auf dem Tisch liegt Gift. Es ist ein Buch, ein Büchlein vielmehr, dünne 127 Seiten, lesbar in zwei Stunden. Die Sätze darin führen einen auf einen Trip durch die Finsternis, sie setzen tiefe Schnitte ins Herz. Der Verfasser ist ein junger Autor, Benjamin Lebert, inzwischen 21, vor vier Jahren Autor des Bestsellers „Crazy“. Dafür wurde er geliebt, gedrückt, vereinnahmt, erdrückt. Jetzt präsentiert er uns das Produkt seiner Rache. „Der Vogel ist ein Rabe“ heißt der Titel seines zweiten Romans.
Zugrunde liegt ein Systemfehler des Literaturgeschäfts, der folgendermaßen funktioniert: Ein Junge, 16 Jahre alt, torkelt von Schule zu Schule, aufs Internat, zurück und schließlich weg. Weil der Mensch aber etwas tun muss, landet er als Praktikant beim Jugendmagazin Jetzt. Dort entdeckt er die Liebe zum Schreiben. Sätze zu kleben macht Spaß und heilt die nervöse Seele. Es sind richtige Sätze, die anderen nervösen Seelen Trost schenken. Er schreibt ein kleines Buch über seine Schmerzen im Internat. Es ist gut, wie viele Bücher es sind, und es erfüllt seinen Zweck eigentlich in der Verarbeitung der eigenen Erlebnisse. Doch dann passiert etwas Verhängnisvolles. Einflussreiche Männer und eine Brigitte-Kolumnistin nehmen sich des unerfahrenen Jungen an. Die Kolumnistin schreibt im Spiegel euphorisch über „Crazy“. Den Spiegel lesen viele Menschen, besonders viele Deutschlehrer, und so nimmt das Schicksal seinen Lauf. Millionenauflage. Es folgen ein Film, Übersetzung in fremde Sprachen und Geschichten und Geschichten und auch noch eine über den kleinen talentierten Jungen mit der interessanten Behinderung.
Aus dem Autor, der für seine unverdorbene Gesellschaftskritik geliebt wird, wird selbst ein Geschäft, von dem viele gut leben. Er zugegebenermaßen auch, die großen Augen auf der Buchrückseite gehören einem Millionär. Vier Jahre hat er sich Zeit gelassen mit seinem zweiten Roman, der sich ebenfalls bestens verkaufen wird. Garantiert. Egal, was darin steht. Diese Chance hat Benjamin Lebert genutzt.
Worum geht es? Zwei Jungen, Paul und Henry, beide Anfang zwanzig, fahren im Schlafwagen von München nach Berlin. Sie kennen sich nicht. Vielleicht fällt es ihnen deshalb so leicht, offen über ihr Leben zu sprechen. Das schwingt in einem Takt, der heißt: Angst. Angst vor einer bunten Glitzerwelt, in der die Mädchen Goldstaub atmen und nach Ingwer duften. Angst vor einer Stadt wie Berlin, in der am Straßenrand überall Menschen mit abgebissenen Gliedmaßen liegen. Menschen, die es nicht geschafft haben, die Träume aus den Traumfabriken in die Realität zu überführen. Angst davor, unglücklich zu sein, weil man zu dick ist für Sex mit schönen Mädchen. Es ist ein stummer Schrei, der dem Hirn in großen Buchstaben diktiert: Angst.
Er, sie, es liebt mich nicht. „Weißt du, wie wahnsinnig ich mich nach Mädchen sehne“, sagt Henry. Das tut so weh, dass der Körper schreit. Dann muss Henry scheißen. „Ich bekam regelmäßig tierischen Durchfall. Ich rannte dann zur Toilette und schiss mir meine Seele raus. Ich schwitzte so sehr, dass meine Klamotten an der Haut festklebten und ich die Unterhose erst gar nicht runterziehen konnte“, erzählt Henry. Der Darling Schmerz ist so groß und stark, dass er vertraut wird und sich im Körper einrichtet. Dann tanzt auch schon Erlöser Untergang den Eröffnungswalzer auf dem Parkett.
Was Benjamin Lebert schreibt, dieses Mal nicht wie bei „Crazy“ in der Ichform, sondern durch die zwischengeschalteten Erzähler Henry und Paul, liest sich als düstere Zukunftsvision. Der heilenden Hoffnung auf ein glückliches Leben zieht sich der Boden weg. „Und weißt du, was das Verrückte ist?“, fragt Henry Paul. „Dass ich sie gleichzeitig auf die brutalste Weise umbringen möchte. Alle.“ Es geht um die Mädchen, klar, um was sonst. Ein Jungsgespräch. Tolle, große, heilige Sache. Da sind sogar solche Gedanken erlaubt. Und welch schöner Optimismus: Zwei traurige Jungen treffen sich zufälligerweise, reden, verstehen sich. Ein Silberstreifen? Nein, nein, nein. Alles geht kaputt. In Wahrheit redet nämlich nur einer, Henry, der Paul an einen Vogel erinnert. Der Rabe. Paul hört und stimmt zu. Dazwischen blitzt es in seinem Kopf. Die Blitze beleuchten eine schreckliche Tat, die aus Enttäuschung über das launische Glück dem Glück endgültig den Weg ins eigene Leben verbaut. Ist Henry der Rabe, so ist Paul der Spatz, der aus Verzweiflung zum Raubvogel wird. Diesen Schmerz behält Paul für sich. „Ich bin eben kein Erzähler wie du“, entschuldigt er sich später bei Henry. Es wischt die Lüge nicht weg. Dann das Armageddon, Ende, aus. Zurück bleibt ein geschlagener Leser, wacklig, ängstlich, krank. Je nach eigener Verfassung stärker oder schwächer.
Wie anderen jungen Autoren wurde auch Lebert von einfallslosen Kritikern das Todesprädikat „Autor seiner Generation“ angeklebt. Benjamin Lebert der neue Florian Illies? Mit diesem Buch sicher nicht. Es ist mutig, kühn und frech, ein Buch für den Massenmarkt mit dreckigen Sätzen übers Scheißen, Kotzen, Bluten und Wichsen zu füllen. Jetzt all die „Crazy“-Deutschlehrer und Frau Literaturpäpstin Elke Heidenreich zu zwingen, solche Sätze zu lesen, ist groß und verdammt cool. Dafür ein lieber Schlag auf die Schultern.
Bleibt nur noch die Frage, wie es sein kann, dass ein junger Autor eine solch dunkle Weltsicht beschreibt? Muss man sich Sorgen machen? Ja, es stimmt, die meisten Menschen sind kalt, sie glauben die Regeln des Spiels zu beherrschen und jede Schwäche mit kühler Verachtung bestrafen zu müssen, um selbst nicht in die Gefahr einer Blöße zu geraten. Das ist schrecklich. Ein guter Grund zum Sterben. An schlechten Tagen. An guten, weiß man, dass die, die lieben, die Stars sind.
Benjamin Lebert: „Der Vogel ist ein Rabe“. Kiwi, Köln 2003, 127 S., 9,90 €