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Archiv-Artikel

Land der solidarischen Begierde

Die Revolution hatte alles, was es brauchte: einen Feind, junge Helden und anfangs ErfolgeTausende fuhren bald als Brigaden nach Nicaragua und ließen sich von den Flöhen zerbeißen

VON BERND PICKERT

Nicaragua. Gut zehn Jahre lang, von der Revolution am 19. Juli 1979 bis zur Abwahl der sandinistischen Regierung am 25. Februar 1990, stand allein die Erwähnung des kleinen mittelamerikanischen Landes für politische Kontroverse, für Polarisation, für verwirklichte und uneingelöste Träume und Utopien. Niemals zuvor und niemals danach in der Nachkriegsgeschichte erreichten die politischen Ereignisse in einem kleinen, fernen Land solch einen Bekanntheitsgrad. Niemals zuvor und niemals danach identifizierten sich so viele Menschen auf der Welt mit einer linken Befreiungsbewegung und ihrem Versuch, die Verhältnisse in ihrem Land vom Kopf auf die Füße zu stellen. Sich mit Nicaragua zu beschäftigen oder wenigstens: Nicaragua-Kaffee zu trinken und Geld zu spenden, gehörte einfach dazu. Nicaragua stand für den internationalistischen Teil der alternativen Bewegung, die sich im Übrigen mit Friedensaktivitäten gegen US-Mittelstreckenraketen, Antiatomkraft, Feminismus, Antirassismus und Hausbesetzungen ganz gut zu beschäftigen wusste.

Die sandinistische Revolution hatte alles, was zur Identifikation nötig war. Da war zunächst der Feind: die Familie Somoza. Ihre Diktatur, bereits in den 30er-Jahren von den USA aufgebaut, war eine der blutigsten und habgierigsten nicht nur in Lateinamerika. Und dann die Contra: Ehemalige Somozisten, ausgerüstet und finanziert von der Reagan-Regierung, die unter Verletzung des Völkerrechts einen terroristischen Krieg gegen Nicaragua führte, unterstützt nicht zuletzt vom Boykott Nicaraguas auch durch die Bundesregierung.

Das war David gegen Goliath, mehr noch als in Vietnam, zumal der David aus einer sandinistischen ehemaligen Guerilla bestand, deren ideologischer Gehalt so schwer einzuordnen war, dass sich jeder aus dem Revolutionskonzept aussuchen konnte, was er darin sah. Da war der linke Befreiungstheologe Ernesto Cardenal, der plötzlich Kulturminister wurde. Da war Daniel Ortega, langhaarig und bärtig, ein Mann aus einfachen Verhältnissen, der sieben Jahre Somoza-Gefängnis hinter sich hatte. Er war gerade mal 33 Jahre jung, als er für die Sandinisten in die Junta des nationalen Wiederaufbaus ging. Da waren Sergio Ramírez, der linke Intellektuelle, und Omar Cabezas mit seinem romantischen Buch „Die Erde dreht sich zärtlich, Compañera“ – damals fast Pflichtlektüre. Und da war Dora María Tellez, gerade 29, die legendäre Comandante 2 beim Überfall auf den Nationalpalast. Es war eine Revolution der Jungen, der Dichter – und der Frauen.

Nicaraguas Revolution unter den schwarz-roten Fahnen der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN), aber mit einem verfassungsmäßig verankerten Mehrparteiensystem, Abschaffung der Todesstrafe und internationaler Blockfreiheit – das entsprach den ideologisch diffusen sozialen und Jugendbewegungen der 80er-Jahre in Westdeutschland, die von den Debatten der 68er nur noch wenig wissen wollten, viel mehr als etwa Allendes Sozialismus in Chile oder Fidel Castros Kuba. Dass die SandinistInnen mehr vom kubanischen System kopierten, etwa den Aufbau der so genannten Massenorganisationen oder die Stadtteilkomitees, wollten dabei nur wenige wahrhaben.

Denn da waren die faszinierenden Erfolge der Revolution. Bei der Alphabetisierungskampagne zogen 1980 tausende von StädterInnen aufs Land – die Analphabetenrate sank von über 60 auf 12 Prozent. Die Gesundheitsversorgung für alle senkte innerhalb kurzer Zeit die Kindersterblichkeit und verschaffte auch den Ärmsten Zugang zu Medikamenten. Dass all das nur durch eine drastisch erhöhte Auslandsverschuldung zu finanzieren war, interessierte zunächst nicht. Nicht die sandinistische Regierung, auch nicht die Solidarischen.

Was die Nicaragua-Solidarität am meisten prägte, waren aber die Arbeitsbrigaden, die ab 1983 nach Übersee reisten. Bald bevölkerten lokal organisierte BrigadistInnen aus den Mitte der 80er-Jahre rund 350 deutschen und zigtausend weltweiten Solidaritätskomitees, Städtepartnerschaftsinitiativen, Gewerkschaften und Jugendorganisationen das kleine Land in Mittelamerika. Nachdem Ängste und das Pathos abgelegt waren, das sich an den Wurzeln der Brigade-Bewegung im spanischen Bürgerkrieg orientierte, wurden es so viele, dass es bald nichts Besonderes mehr war, wenn deutsche Linke im Urlaub auf eigene Kosten nach Nicaragua fuhren, um sich wochenlang in ungewohnten Bedingungen, oft ohne Spanischkenntnisse, mit für sie ungewohnten körperlichen Arbeiten beschäftigten. Es waren Tausende, die sich von Flöhen zerbeißen ließen, gelb waren von der Hepatitis und abgemagert von den Amöben im Darm, und trotzdem begeistert zurückkamen und erzählten.

Wohl nie zuvor hatte eine Solidaritätsbewegung so engen und regen Anteil am Leben in dem Land ihrer solidarischen Begierde genommen. Die Brigade-Bewegung veränderte auch die Solidaritätsbewegung in Deutschland. Es war nicht mehr eine mehr oder weniger abstrakte Revolutionsidee, mit der man sich solidarisierte, es waren die Menschen in Nicaragua. Die Arbeit in unzähligen Solidaritätsprojekten in den nicaraguanischen Städten und auf dem Land wurde bald zum bestimmenden Thema der Gruppen und Komitees, ob sie nun Schulen bauten, Landwirtschafts-, Nähkooperativen oder Krankenhäuser unterstützten. Die Frage, wie in Deutschland neue Finanzierungsquellen aufzutun waren oder warum die staatlich zugesicherte Zementlieferung wieder nicht rechtzeitig eintraf und warum man sich tagelang mit unfähigen Zollbeamten im Containerhafen von Corinto herumschlagen musste, um Hilfsgüter loszueisen, bestimmte den Solidaritätsalltag. „Vor uns die Mühen der Ebene“ hieß es auf den Plakaten.

Dieses nahm dem Ganzen zwar die Romantik, nicht aber das Engagement zum Weitermachen. Immerhin konnten sich alle als Teil eines Räderwerks betrachten, das trotz der großen und mächtigen Gegner in Washington oder auch in Bonn seinen Teil zum Gelingen der Revolution beitrug. Für alles, was schief ging, waren Erklärungen parat: Der Krieg, der Wirtschaftsboykott, die Aggression des Imperialismus eben. Dass auch viele sandinistische Funktionäre immer häufiger das eigene Versagen hinter solchen Schlagwörtern verbargen, wurde zwar mitunter diskutiert, störte aber nicht weiter, genauso wenig wie die langsame Abkehr von den partizipativen Elementen, die die Revolution in den ersten Jahren so wichtig genommen hatte. War es nicht logisch, dass in einer Kriegssituation Freiheiten beschnitten wurden? War es nicht viel wichtiger, von den Erfolgen der Revolution zu berichten als von ihren Widersprüchen? Nur wenige Gruppen wagten, offene Kritik an der FSLN-Regierung zu üben. Sie bekamen den Vorwurf entgegengeschleudert, nur ihre eigenen, eurozentristischen Revolutionsträume auf andere zu projizieren. „Nicaragua muss überleben“ hieß eine große Kampagne, und viele sahen im 1987 von der sandinistischen Nationalleitung ausgegebenen Jahresmotto „Aquí no se rinde nadie – Hier gibt niemand auf“, nicht die verzweifelte Durchhalteparole einer bereits gescheiterten Revolutionsregierung, sondern wiederum den Kampfeswillen des David. Hatte nicht etwa der Internationale Gerichtshof 1986 die USA zur Zahlung von 12 Milliarden Dollar Schadenersatz an Nicaragua wegen der völkerrechtswidrigen Verminung des Hafens von Corinto 1984 verurteilt? Hatte nicht Nicaragua jede sich bietende Möglichkeit genutzt, bei den Vereinten Nationen Unterstützung gegen die kriegerischen Aktionen der USA gesucht. Nicaragua brauchte Unterstützung. Punkt.

Als die SandinistInnen am 25. Februar 1990 die Wahlen gegen eine rechte Koalition und ihre Spitzenkandidatin Violeta Barrios de Chamorro verloren, brach eine Welt zusammen. Die meisten Solidaritätsgruppen stellten über kurz oder lang ihre Arbeit ein oder widmeten sich anderen Weltregionen. Nur wenige machten weiter, darunter vor allem viele der rund vier Dutzend Städtepartnerschaften. Die meisten haben Nicaragua nach 1990 nie wieder besucht.

Manche sind verbittert, werfen den SandinistInnen ihre Fehler vor. Viele haben selbstkritisch analysiert, warum sie nicht mitbekamen, dass eine Mehrheit der NicaraguanerInnen, zermürbt von der wirtschaftlichen Katastrophe und der Aussicht auf weiter fortdauernden Krieg, keine Lust mehr hatten, die sandinistische Regierung zu verteidigen. Aber für viele, die damals AktivistInnen waren, bleibt die Zeit der sandinistischen Revolution nicht nur politisch prägend, nicht zuletzt, weil einige „Internacionalistas“ in Nicaragua ums Leben kamen, bei Contra-Überfällen getötet. Aber den höchsten Preis haben die NicaraguanerInnen bezahlt. Haben sich die vielen tausend Toten gelohnt für diese zehn Jahre des sandinistischen Experiments? Die Frage macht traurig. „Natürlich“, sagte vor kurzem eine Nicaraguanerin bei einer Veranstaltung in Berlin. Dass sie sich da so sicher ist, hätten wir früher bewundert.