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Archiv-Artikel

Füße, zur Sonne, zur Freiheit!

Selbst Flip Flops sind tabu: In der Dauerbarfußgänger-Szene ist jegliche Fußbekleidung verpönt. Auf nackten Sohlen wandern ihre Anhänger durch die Stadt, meiden Schotterwege und rasten auf Blindenhilfen an Ampeln, weil die Rillen von unten lüften

von CHRISTIN GRÜNFELD

Schon das Hinschauen schmerzt. Füße, Größe 45, setzen Schritt für Schritt auf die heißen Pflastersteine am Helmholtzplatz. In der Mittagshitze könnte man hier Spiegeleier braten. Thomas zuckt nicht zusammen. Souverän marschiert er auf ein Straßencafe zu. Seine Füße müssen einiges aushalten, er ist ein kräftiger Typ.

Bekleidet ist er normal: Shorts, weites T-Shirt und sportliche Sonnenbrille. Ein freundliches Lachen auf dem breiten Gesicht. Er könnte als Tourist durchgehen, mit einem Unterschied: Ihm fehlt etwas. Etwas sehr Entscheidendes. Er trägt keine Turnschuhe oder Flip Flops. Thomas ist barfuß. Und das nicht zufällig, er ist Dauerbarfußgänger – nicht ganz, ein silberner Schmuckring ziert den rechten Mittelzeh.

Im Cafe erregt er barfüßig keine Aufmerksamkeit, nicht in Prenzlauer Berg. Hier wächst die Nacktfußszene. Freie Menschen mit befreiten Füßen wandern umher, gelebter Antikonsum vereint sich mit dem Sieg über eine Konvention. Zwischen barhäuptig und barfuß liegt ein Jahrhundert.

Kein Tick, kein Fetisch, für Thomas ist es pure Freiheit und ein Stück Genuss. Einfach Lebensqualität. Haptische Reize gebe es kaum noch in unserer Umwelt, erklärt Thomas: „Selber schuld, wir haben sie alle ausgeschaltet. Kein Kind würde freiwillig auf die Idee kommen, Schuhe zu tragen. Die meisten reißen sie am Anfang wütend wieder ab.“ Gesund sei es ohnehin, die Fußmuskulatur würde geschult und Fehlstellungen natürlich entgegengewirkt. „Senk- Spreiz- und Plattfuß, ade! Fußpilze fühlen sich in feuchtwarmen Schuhen am wohlsten“, sagt er.

Zu den radikalsten „Freigängern“ gehört er nicht. Der Ausbruch aus dem Alltag des Diplomingenieurs erfolgt pünktlich am Feierabend, genauer beim Betreten seiner Wohnung. „Im Job habe ich Kundenkontakt. Barfuß hätte ich ein Kompetenzproblem, das Vertrauen sinkt ohne Schuhe“, so Thomas. Während er an elektrotechnischen Apparaturen schraubt, trägt er deshalb Lederschuhe.

Anders in der Freizeit, da ist er kompromisslos, seit fast 20 Jahren. Angefangen hat er während des Studiums. „Verschiedene Untergründe erzeugen unterschiedliche Gefühle. Das mag ich. Am liebsten laufe ich über weichen Waldboden, Wiesen, durch die Natur eben“, schwärmt er. „In Stadtparks meide ich Junkie-Zonen, es liegen schon mal Nadeln im Gras. Scherben sind kein Problem, die spüre ich gar nicht mehr.“ Auf die Frage, ob er eine extreme Hornhaut habe, antwortet er mit klarem Nein: „Meine Sohlen sind aus strapazierfähiger Lederhaut. Hornhaut ist tote Haut, die bleibt nur an beschuhten Füßen kleben.“ Bei größeren spitzen Gegenständen wie Metallstücken trete er instinktiv nicht voll auf, „dann nehme ich den Power raus, bevor ich mir etwas eintrete“, so Thomas. „Neueinsteiger konzentieren sich auf jeden Schritt. Ich schaue nicht permanent auf den Boden. Mit Schuhen geht man auch etwas vorausschauend, es ist genau der gleiche Slalom um die Hundescheiße wie mit Tretern.“ Einmal habe er sich einen Splitter eingefangen, ein Fakir sei er nicht. Er fährt barfüßig Fahrrad, kauft bei Ikea ein, benutzt Rolltreppen.

Thomas spaziert los. In der Mitte des Helmholtzplatzes kreuzt ein anderer Barfüßer seinen Weg. Die Szene kennt ihre eigenen Grüße, aber dafür ist es jetzt zu heiß. Man wünscht zum Beispiel: „Einen schönen Fuß!“ Kopfsteinpflaster auf der Raumer-, Sandstellen auf der Schliemannstraße und Splitt auf der Danziger. Den hasse er, sagt Thomas, Schotter tue sogar ihm weh. Die Blindenhilfe an den Ampeln benutze er als Kaltflächen, weil die Rillen von unten lüften.

„Die schönste Saison ist der Frühsommer oder Herbst, aber die meisten Menschen befreien erst jetzt ihre Füße. Die Hitze legitimiert die Barfüßigkeit, die Hemmschwelle sinkt“, vermutet er.

Im Internet chattet die Barfußgemeinde im Forum über Themen wie „Öffentliche Toiletten meiden“, „Barfuß Autofahren“ oder organisiert Berlin-Sightseeings. Wanderungen vom Alex bis ins Kanzleramt. Der Kanzlergarten sei ein „hervorragendes Sohlentraining“, so eine Chatterin. Barfüßige Hochgefühle erlebe man auf der Pfaueninsel mit ihren sandigen Wegen, so eine andere. Über den regen Zulauf der Szene freut sich Urgestein Thomas, nicht alle bekennen sich öffentlich, die Dunkelziffer sei hoch.

Von hinten sehen Thomas’ Sohlen jetzt schwarz aus, ein Schönheitsmerkmal in der Szene, es gibt viele unterschiedliche Farbnuancen. Freunde mit Teppichboden könnte er so nicht besuchen. Immerhin: Thomas wäscht seine Füße einmal am Tag, abends.