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Archiv-Artikel

Wunschlisten für das nächste Stück

Sich tot stellen, tarnen, unsichtbar werden: In ihrem Stück „Creatures of Habit“ geht die Choreografin Sommer Ulrickson den Verhaltensweisen der Abwehr und des Schutzes nach. Jedes ihrer Stücke ist auch eine Reaktion auf die vorausgegangene Arbeit. Ein Porträt der Choreografin

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Sie sieht aus wie ein schwedischer Sommer, hellhäutig, langhaarig, blond, und heißt auch so: Sommer Ulrickson. Doch die Tänzerin und Choreografin kam vor 31 Jahren in Kalifornien zur Welt und vermisst in Berlin nichts so sehr wie den Sommer. „Neun Monate Winter und dann so ein harter Sommer“, klagt sie, das macht „ihre Liebe zu Berlin“ schwer.

Keine Frage aber, dass sie bleiben will. Nicht nur, weil sie hier ihren Freund kennen gelernt hat, den bildenden Künstler Alexander Polzin, der auch für ihr letztes Bühnenbild die Wände der Sophiensäle in dünne Folie eingehüllt hat. Sondern auch, weil in ihren Augen Berlin der beste Arbeitsplatz für eine Choreografin ist. „In San Francisco“, meint sie, „gibt es für Tanzstücke fast nur ein Insider-Publikum. Hier dagegen ist Kultur fast selbstverständlicher Teil des Alltags. Die Kritik, die von Kollegen und Freunden kommt, ist härter, das hat mich anfangs erschreckt. Inzwischen habe ich das schätzen gelernt.“

Sie hatte Glück, kurz nach der Ankunft 1998 das Interesse von Barbara Friedrich zu wecken, Kuratorin der Tanztage im Pfefferberg und später in den Sophiensälen. Mit den Tänzern Dan Pelleg und Marko Weigert gründete Ulrickson 1999 die wee dance company, die einen dynamischen und emotionsgeladenen Tanzstil mit viel Witz und erzählerischen Assoziationen verband. In dem Stück „Äug“ nutzte sie auch ihre schauspielerische Ausbildung und spielte Szenen einer Frau, die ihrem selbst entworfenen, werbenden Bild aus einer Kontaktanzeige immer ähnlicher werden will. In „plan b“ bezogen die drei ihre biografischen Hintergründe, die Herkunft aus Israel, den USA und Deutschland mit ein. Heute sieht Sommer Ulrickson ihre Zeit mit wee dance als eine gelungene Kollaboration dreier Choreografen mit unterschiedlichen Zielen, deren Reibung eine Zeit lang konstruktiv war. In ihren eigenen Stücken versucht sie die Konturen schärfer zu fassen und sparsamer mit Assoziationen umzugehen.

Wenn eine Produktion fertig ist, erzählt sie, entstehen eigentlich die größten Wunschlisten, was man als Nächstes tun möchte. Fast immer in Reaktion auf die gerade beendete Arbeit – war dort die Bewegung mit sozialen Bedeutungen belegt, sehnt sie sich nach einem abstrakten Stück; hat sie lange mit Tänzern gearbeitet, freut sie sich auf Schauspieler und Text. Dieser Motivationsfluss kreuzt sich mit langfristigen thematischen Vorhaben. Sowohl ihr Stück „Jerusalem Syndrom“ (2003) wie „Creatures of Habit“, das zurzeit in den Sophiensälen läuft, gehen auf Fragen zurück, die sie lange beschäftigten: Woher kommt die neue Sehnsucht nach Glauben? Wie reagiert man auf Reizüberflutung? Welchen Strategien der Abwehr gibt es? Was passiert, wenn sie zusammenbrechen?

Diese Bohrungen im zwischenmenschlichen Verhalten verbinden zwar beide Stücke. Dennoch entstanden sie auf sehr konträren Wegen. „Jerusalem Syndrom“ war eine Materialanhäufung über Ergriffenheit, Hingabe, Vertrauen und Hysterie, über Gebete, Radioshows mit bekennendem Duktus und andere die performative Formen, die die Massenmedien von der Religion geerbt haben. Auch formal war das Stück überfüllt, eine Collage aus unterschiedlichen Stilen und Ebenen der Symbolisierung, von innen und von außen her gedacht. Auch eine Überforderung für sie selbst, meint die Choreografin inzwischen.

„Creatures of Habit“ ist dagegen eine Übung in Reduktion und Konzentration. Alles wird aus den Figuren entwickelt, und was Tanz und Bewegung bedeuten können, stellt sich erst langsam her, ohne assoziative Hilfen. Das Stück verlangt eine ganz andere Aufmerksamkeit, nicht nur des Publikums, sondern auch der Tänzer untereinander. Sie dürfen sich nicht mehr in ein leichtes Spiel mit Schritten flüchten, die sich einer aus dem anderen ergeben. Sondern für jeden von ihnen wurde eine Figur entwickelt, die in gespanntem Verhältnis zu ihren eigenen Gewohnheiten steht; sie konnten sozusagen nicht auf der sicheren Seite der Repräsentation ihrer Persönlichkeit bleiben, sondern mussten mit Hindernissen arbeiten.

Florian Bilbao beispielsweise, ein kräftiger und kraftvoller Tänzer, kehrt seine stets ausbruchsbereite Energie um; sich im eigenen Körper zu verstecken und fast unsichtbar zu werden, zu verschwinden in der Randunschärfe, ist das Schwerste für ihn. Anna-Luise Recke dagegen, der Rückzug und Vorsicht nahe liegen, wird bedrängt, bis ihr kein Raum zum Rückzug mehr bleibt und sie nur noch mit den Händen wedeln kann.

Tatsächlich sind die abwehrend erhobenen Hände, die verweigerte Berührung, der unterbrochene Kontakt dort, wo sonst im Tanz die Energie und der Bewegungsimpuls weitergegeben werden, das auffälligste Merkmal dieser Choreografie. Das Stück irritiert, weil sich die Verhältnisse umkehren, nicht die heftige und deutlich wahrnehmbare Bewegung die bedeutungstragende ist, sondern die stille Geste, das, was derweil bis zur Unmerklichkeit verlangsamt im Hintergrund geschieht. Der Fokus der Aufmerksamkeit muss sich also selbst langsam verlagern, erst die Orientierung lernen. Das ist das Spannende an dem Stück, aber auch das Risikoreiche: dass man den großen Bewegungen folgt und das Eigentliche verpasst.

Die Aufmerksamkeit verlagern: Das wird Sommer Ulrickson aus diesem Stück mitnehmen in einen ganz anders gearteten Auftrag, den sie bei den Freien Kammerspielen in Magdeburg angenommen hat. Dort soll sie mit Schauspielern ein Stück zum Thema Amerika entwickeln. Amerika, das Thema ist so politisiert, sagt Sommer Ulrickson, die selbst empört ist über die Politik Bushs; sie fürchtet sich aber dennoch vor Plattitüden der Amerika-Kritik. Deshalb will sie weg von den Institutionen der Politik und bei einer Familie ansetzen. Der Nahbereich, das menschliche Verhalten unter eingeschränkten Bedingungen zu erkunden, das bleibt ihr Ansatz.

Creatures of Habit, 22.–25. Juli, 21 Uhr, in den Sophiensälen