: Wo Frauen keine Burka tragen
AUS SARANDSCH UTE SCHEUB
Afghanistan ist das Ende der Welt. Abrupt endet die Straße an dem Grenzhäuschen im Südosten des Iran, und Afghanistan beginnt mit einem holperigen Fußweg. Flach, reizlos, im wahrsten Sinne des Wortes verwüstet breitet sich das Land aus. Kein Baum ist zu sehen, kein Strauch, nur das ausgetrocknete Flussbett des Helmand, aus dessen Sand bisweilen ein kaputtes Boot ragt. Im hitzigen Wüstenklima reißen vier Frauen aus Europa ihre Kopftücher herunter. Und werden sofort abgeführt.
Nein, nicht ins Gefängnis, sondern ins Gästehaus von Sarandsch, der Hauptstadt der Provinz Nimros. Diese südwestliche Region Afghanistans gilt als eines der unbekanntesten des Landes, ein weißer Fleck auf der Landkarte. Mit einer Einwohnerzahl von nur 150.000 ist sie arm, unterentwickelt, von der Welt vergessen. Aber sie hat das wohl freiheitlichste gesellschaftliche Klima von ganz Afghanistan.
Ohne Schleier herumzuspazieren ist für Europäerinnen kein Problem, sie ernten dafür zwar jede Menge neugierige Blicke, aber keinerlei aggressive Reaktionen. Die Afghaninnen tragen bunte Kopftücher oder auch den aus dem iranischen Exil mitgebrachten Tschador. Die blaue Burka, die in anderen Provinzen nach wie vor das Straßenbild prägt, ist in Nimros die absolute Ausnahme. Im Basar von Sarandsch sieht man ab und zu eine ganz in Blau gehüllte Frau – eine Bettlerin, die aus Scham über ihr Tun ihr Gesicht versteckt.
Es scheint, als wolle das menschenfreundliche gesellschaftliche Klima kompensieren, was das menschenfeindliche natürliche Klima anrichtet. Im Winter wird es kalt, im Sommer 50 Grad heiß, Wasser ist knapp und teuer, und ständig gibt es Sandstürme. Dann kann man die Hand vor den Augen nicht mehr sehen, und die Lunge füllt sich bis oben mit Staub. Dann wickeln auch Europäerinnen ein Tuch um ihre Haare.
Die Geste ruft bei manchen Afghaninnen jedoch Protest hervor: „Nehmt bloß das Tuch ab, in Nimros herrscht Freiheit!“ Westlerinnen mit Kopftuch werden milde verspottet: „Willst du etwa einen Talib heiraten?“
Auch das Geschäftsklima ist gut, das grenznahe Sarandsch mit seinen 70.000 Einwohnern ist eine aufstrebende Handelstadt. Überall wird gebaut und investiert, denn in den nächsten Jahren werden die noch fehlenden Teilabschnitte einer Handelsroute über Sarandsch fertig gestellt, die dann die Häfen des Iran mit Kabul verbinden wird. Im Staub der Basarstraßen stapelt sich schon jetzt ein reiches Warenangebot. Orangen und Tomaten aus Pakistan, Trinkwasser und Cola aus dem Iran, Teekessel aus Russland, Buntstifte aus China, Stoffe aus Indien – es gibt fast alles.
Über die unkontrollierbare grüne Grenze zum Iran wird zudem nachts Benzin und Diesel herein- und Opium hinausgeschmuggelt. Nach dem Sturz der Taliban wurde das Rauschgift im Basar offen verkauft, doch Provinzgouverneur Abdulkarim Barahui schloss die Läden und kündigte den Drogenhändlern den Kampf an.
Dennoch konnte auch er nicht verhindern, dass einige wenige Familien in Nimros durch Schmuggel reich wurden, während der größte Teil der BewohnerInnen extrem arm ist und von weniger als einem US-Dollar täglich leben muss. Der Boden ist so trocken, und die noch funktionierenden Tiefbrunnen sind so rar, dass nur wenige Weizenbauern, Schaf- und Ziegenzüchter ihr Auskommen finden.
Einst wuchs hier Weizen
Mohnanbau ist nicht zu sehen, aber es ist zu erfahren, dass der Gouverneur in einem abgelegenen Teil der Provinz nun schon das dritte Jahr hintereinander die Bauern vom Anbau hat abbringen müssen. Viele Nimroser schlagen sich als Händler oder Arbeiter im informellen Sektor durch oder erhalten Unterstützung aus dem Iran, denn die weitläufigen Familien der hier ansässigen Volksgruppe der Belutschen leben diesseits und jenseits der Grenze.
Nach der Erinnerung älterer BewohnerInnen hatte Nimros noch vor zwanzig Jahren ein fruchtbares Klima. Bis zum Einmarsch der Sowjets war es ein gutes Anbaugebiet für Weizen, damals funktionierte das Kanalsystem noch. Doch der folgende 23-jährige Krieg verwüstete Nimros im wortwörtlichen Sinne, die Kanäle versandeten, Wüste breitete sich aus. Und die Klimakatastrophe ließ den einst so mächtigen Helmand zu einem Rinnsal zusammenschmelzen.
Um Bewohnern und zurückkehrenden Flüchtlingen eine Zukunftsperspektive zu bieten, möchte die Provinzregierung einen Staudamm bauen oder hilfsweise wenigstens die alten Kanäle reparieren, aber das würde mindestens 20 Millionen Euro kosten. Geld, das die Provinzregierung nicht hat und die Zentralregierung nicht zur Verfügung stellt.
Denn Nimros hat wenig Freunde, und der Hauptgrund dafür sind die für afghanische Verhältnisse enormen Freiheiten, die seine weiblichen Bewohner genießen. Mädchen und Jungen werden in der Grundschule gemeinsam unterrichtet. Junge Mädchen weigern sich zunehmend, arrangierte Ehen einzugehen oder sehr früh zu heiraten. Wenn sie vor Zwangsehen davonlaufen, kommen sie nicht wie in anderen Provinzen ins Gefängnis. Frauen und Männer diskutieren auf Veranstaltungen miteinander. Frauen gehen arbeiten, fahren Auto, sprechen im Radio, lassen hie und da ihr Kopftuch fallen.
Wie ist die Andersartigkeit von Nimros zu erklären? Einerseits durch die Tradition: Die meisten Menschen hier praktizieren eine tolerante Variante des Islam, in der die individuelle Beziehung zu Gott und nicht die Einhaltung äußerer Normen als entscheidend gilt. Andererseits durch die Provinzregierung, die von Intellektuellen aus der legendären „Nimrosfront“ geführt wird.
Als die Sowjets 1979 in Kabul einmarschierten und ihre Anhänger selbst im fernen Nimros kleine Bauern als „Feudalherren“ verhafteten und töteten, gründeten einige Akademiker aus dem Städtchen Tschahar Burtschak die „Nimrosfront“ und leisteten bewaffneten Widerstand. Während der ganzen Sowjetzeit blieb Tschahar Burtschak befreites Gebiet, selbst den Taliban trotzte es ein paar Monate lang. „Das war nur möglich, weil wir so viel Unterstützung in der Bevölkerung genossen“, sagt einer der überlebenden Kämpfer. „Tschahar Burtschak und das Pandschirtal sind die beiden einzigen uneinnehmbaren Gebiete Afghanistans“, ergänzt er stolz.
Die Geschichte der „Nimrosfront“ ist jedoch zugleich die Geschichte eines großen Verrats durch den Westen, der die in den 60er- und 70er-Jahren entstandene afghanische Demokratiebewegung dem sicheren Tod zwischen den Fronten preisgab. Die „Nimrosfront“, die für Afghanistans Entwicklung einen „dritten Weg“ jenseits der Supermächte suchte, gefiel weder den Sowjets noch den von den USA unterstützten islamistischen Parteien. 1982 wurde Gol Mohammed Rahimi, der Kopf der nationaldemokratischen Bewegung, in einem Hinterhalt ermordet, und frühere Frontkämpfer behaupten, in diesem einen Fall hätten die Russen und Amerikaner sogar gemeinsame Sache gemacht. Ignoriert von den westlichen Ländern, die bis heute von diesen antifundamentalistischen Bewegung nichts wissen wollen überlebten von den tausend Kämpfern nur etwa fünfzig die Kriegsjahre.
Akademiker befreien Nimros
Als die Mudschaheddin 1989 in Kabul die Macht übernahmen und einen grausamen Bürgerkrieg gegeneinander begannen, zeigte sich die Zivilkompetenz der „Nimrosfront“. Ihr Kommandeur, der jetzige Provinzgouverneur Abdulkarim Barahui, übernahm die Regierungsgeschäfte in Sarandsch und teilte sich die Macht friedlich mit anderen kleineren Gruppierungen. 1995 wurden sie von den Taliban vertrieben. Doch im November 2001, gut einen Monat nach Beginn des US-Bombardements, befreite die „Nimrosfront“ die Provinz erneut aus eigener Kraft, und Barahui und seine Mitkämpfer übernahmen mit zwei kleineren Gruppen die Regierung.
Der schüchtern und bescheiden auftretende 48-jährige Gouverneur ist beliebt, aber manche sagen auch, er sei einfach zu gütig und fördere auch seine Feinde. Dass das Waffentragen ohne Lizenz verboten ist und Besucher an der Provinzgrenze ihre Waffen abgeben müssen, ist ihm zu verdanken. Bewaffnete Banden existieren deshalb nicht, und seit dem Sturz der Taliban gab es nur zwei gravierende Vorfälle: Taliban aus Nachbarprovinzen überfielen zwei Polizeistationen und töteten mehrere Polizisten.
Im Hinblick auf Sicherheit und Frauenrechte sei das politische Klima in Nimros wohl das beste in ganz Afghanistan, lobten Mitglieder der afghanischen Menschenrechtskommission die Provinzregierung.
„Selbstlob ist keine gute Eigenschaft“, sagt Gouverneur Barahui in seiner bescheidenen Art, „aber ich denke, unsere Frauen fühlen sich sicher auf den Straßen und tragen deshalb keine Burka.“