190.000 Stimmen gegen Hitler

Heute vor 70 Jahren kam der „Führer“ zu einem Propagandabesuch an die Elbe – bei der „Volksabstimmung“ zur Fusion der Ämter Reichskanzler und Reichspräsident versagten ihm zwei Tage darauf prompt viele Hamburger die Gefolgschaft

Von Bernhard Röhl

Noch vor dem Tod des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am 2. August 1934 hatte die Hitler-Regierung angeordnet, dass die Ämter Reichspräsident und Reichskanzler auf Lebenszeit zugunsten des Diktators zu „vereinigen“ seien. Eine „freie Volksabstimmung“ sollte am 19. August abgehalten werden. Am 13. August 1934 erfuhren Hitlers Vasallen in Hamburg, dass der „Führer“ geruhen werde, unmittelbar zuvor nach Hamburg zu fliegen, um dort seine einzige Rede zur Abstimmung zu halten.

Die braunen Uniformträger machten sich im Rathaus am umbenannten Adolf-Hitler-Platz sogleich Sorgen darüber, ob genügend jubelnde Massen auf den Straßen erscheinen würden, um dem „Führer“ zu huldigen. Die gleichgeschalteten Hamburger Nachrichten behaupteten zwar, die Hamburger hätten mit „stolzer Freude“ die Nachricht vernommen, dass Hitler seine wichtige Rede „nicht von seinem geliebten Bayern“ oder von der Reichskanzlei aus an sein Volk und die Welt richten wolle, sondern dafür Hamburg gewählt habe. Am 15. August 1934 verfügte der braune Senat, die Bevölkerung solle ihre Freude über den offiziellen Besuch dadurch ausdrücken, „dass sie sich der staatlichen Beflaggung weitestgehend anschließt und die Straßen, die der Führer durchfahren wird, mit Girlanden aus frischem Grün und Blumen ausschmückt“. Der NS-Senat befahl „im Einvernehmen mit dem Herrn Landesbischof“, während der Fahrt durch die Innenstadt „in der Zeit von 13.45 Uhr bis 14.05 Uhr die Kirchenglocken zu läuten“.

Vor dem Hotel Atlantic, in dem Hitler nächtigte, sollten Jubelaktionen unterbleiben, um den „Volkskanzler“ nicht bei seiner „Wahrnehmung der Regierungsgeschäfte“ zu stören. Die Landesunterrichtsbehörde ordnete „sofort und vertraulich“ an, wie die Schülerinnen und Schüler Spalier an der Fahrstrecke zu bilden hätten. „Nichtarischen Schülern“ war die Teilnahme an der Spalierbildung freigestellt.

Vom Flughafen Fuhlsbüttel aus fuhr Hitler am 17. August im offenen Wagen zum Rathaus. Nach der Eintragung ins Goldene Buch begrüßte der Regierende Bürgermeister Karl Krogmann Hitler aufs Devoteste: „Mein Führer! Wir danken Ihnen aus vollstem Herzen für alles, was Sie für uns getan haben, wir glauben an Ihren Sieg und wir folgen Ihnen, wohin Sie uns führen!“

Anschließend fuhr Hitler zur Werft Blohm + Voss. „Es sind jetzt, wie ich soeben höre, in diesem Unternehmen 6.600 Volksgenossen beschäftigt. 12.000 waren es hier in der Blütezeit. Wir haben also noch eine große Arbeit vor uns“, begann der „Führer“ seine Rede an die Werftarbeiter. Die „Blütezeit“ war der Bau von Kriegsschiffen 1914–18, die große Profite gebracht hatte. Diese Zeit sollte wieder bevorstehen, obgleich der Diktator noch friedliche Töne anschlug: „Wir haben den Wunsch, in Frieden und Freundschaft mit allen anderen zu verkehren und müssen daher auch verlangen, dass sie uns ewige Freundschaft und Frieden entgegenbringen.“

Im Festsaal des Hamburger Rathauses hielt Hitler ab 20.30 Uhr eine lange Rede, die vom Rundfunk übertragen wurde und in der er seine „Kampfzeit“ gegen die Weimarer Republik ausbreitete. Die Mitglieder der NS-Organisationen hätten sich „in der Treue, der Disziplin und der Sauberkeit vorbildlich zu verhalten und zu führen“, mahnte der Redner dann. „Ihre Moralauffassung muss mustergültig sein. Was in ihr krank oder verdorben ist, kann nicht geduldet werden.“ Offensichtlich spielte Hitler dabei auf SA-Chef Ernst Röhm an, der zusammen mit anderen homosexuellen SA-Führern und weiteren Personen wie Ex-Reichskanzler Schleicher am 30. Juni 1934 ermordet worden war. Nach dieser Rede sprach Hitler noch sieben Minuten lang vom Balkon des Rathauses zur Menschenmenge. „Ich richte den Appell an das deutsche Volk in einer Stunde, die es nötig macht, dass wir zeigen, dass das deutsche Volk eine Einheit ist, unlösbar in sich verklammert und verbunden, und dass es wie ein Mann hinter einer Führung steht, die nichts anderes will als dieses Volk“, rief Hitler aus.

„Der Führer selbst war tief gerührt“, notierte Bürgermeister Krogmann nach dem Abflug des „Reichskanzlers“ erfreut in sein Tagebuch. Hitlers Visite kostete vor 70 Jahren 25.448 Reichsmark (RM), davon waren rund 6.000 RM an die Firma Apfelstedt & Hornung für den „Straßenschmuck“ zu zahlen – dieses Unternehmen besteht heute noch.

Bei der „Volksabstimmung“ am 19. August 1934 schließlich waren in der Stadt Hamburg und im Landgebiet 938.947 Frauen und Männer wahlberechtigt. 168.725 Personen stimmten mit „Nein“, das waren 20,39 Prozent, und 21.527 Wahlberechtigte gaben ungültige Stimmen ab – insgesamt bedeutete das 190.252 Stimmen gegen die faschistische Herrschaft. Das Statistische Landesamt musste eingestehen, dass nur 79,62 Prozent Ja-Stimmen registriert worden waren – im übrigen Reichsgebiet waren es 90 Prozent. „Reichsstatthalter und Gauleiter“ Karl Kaufmann jammerte in einem Schreiben an Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß vom 27. August 1934, das Ergebnis der Abstimmung sei die „tiefste Enttäuschung meiner langjährigen Tätigkeit in der Partei“. Ende 1934 waren in Hamburg immer noch 100.000 Menschen arbeitslos und die wirtschaftliche Lage miserabel. Die braunen Machthaber sahen sich gezwungen, die Hafenstadt zum wirtschaftlichen Notstandsgebiet zu erklären.

Zwischen 1937 und 1939 absolvierte Hitler noch sechs Besuche in Hamburg, um unter anderem an Stapelläufen von Schiffen teilzunehmen. Am 2. Juli 1939 kam der „Führer“ zu seiner 33. und letzten Visite. Die durch seine Schuld zerbombte Großstadt suchte er nicht mehr auf.