: Die eingebildete Macht
US-Präsident George W. Bush und die Anhänger abstruser Verschwörungsszenarien zu den Anschlägen vom 11. September haben mehr gemeinsam, als ihnen lieb sein dürfte
Die historische Einordnung des Ereignisses ließ nicht lange auf sich warten. Nichts werde mehr so sein, wie es war, lautete die häufigste Prognose nach den mörderischen Anschlägen vom 11. September.
Keine Frage: Der Anschlag, der 2.792 Menschen im World Trade Center das Leben kostete, war ein Verbrechen von eigener Dimension. Aber es war nicht diese Zahl, die viele politische wie publizistische Akteure dazu bewog, den Tag zur Zäsur zu erklären. Es war auch nicht allein die von den Tätern erfolgreich inszenierte mediale Präsentation. Es war vor allem das Erstaunen darüber, dass ein Anschlag von dieser Größenordnung auf dem Territorium der vermeintlich omnipotenten USA möglich war. Wäre dasselbe in irgendeinem anderen Land passiert, hätten dann auch so viele von einem kriegerischen Akt gesprochen? Wohl kaum. Und gewiss wäre der Terrorakt auch nicht gleich zur Zeitenwende verklärt worden.
Die Formel, dass der 11. September alles in der Weltpolitik grundstürzend verändert habe, hört man heute viel seltener als vor zwei Jahren. Dies kann leider auch bedeuten, dass sie mittlerweile Gemeingut geworden ist. George W. Bush hat die Botschaft, dass alles bis dahin Akzeptierte nun seine Gültigkeit verloren hat, gut genutzt: Der Präsident, seine Minister und Berater haben seitdem so ziemlich alle Regeln des internationalen Zusammenlebens erfolgreich außer Kraft gesetzt. Auch die deutsche Regierung nahm den 11. 9. zum Anlass, jede militärische Zurückhaltung Deutschlands für beendet zu erklären.
Dabei war das Neue am 11. September eine eher banale, aber leider ignorierte Erkenntnis: Große Attentate können US-Einrichtungen nicht nur im Ausland, sondern auch in den USA selbst treffen. Doch die größte Militärmacht, so eine weit verbreitete Haltung, kann unmöglich nur Opfer eines Verbrechens geworden sein. Es muss einfach mehr dahinter stecken. Es muss um alles gehen: um den Kampf zwischen Gut und Böse, um das Überleben der Menschheit, eine Zeitenwende eben.
Diese Überhöhung hat eine unausgesprochene Voraussetzung: die Illusion, dass die USA unverwundbar sind. Schon unter Präsident Bill Clinton war es nahezu außenpolitischer Konsens in den USA, diese Illusion um jeden Preis bewahren zu müssen – vor allem mit der Installation eines Systems zur Abwehr weitreichender ballistischer Raketen. Die USA sollten, so das Argument der Befürworter, gegen so gut wie jeden militärischen Angriff immun werden. Vor dem 11. September dominierte diese Idee einer Raketenabwehr die militärpolitische Debatte. Donald Rumsfeld ist einer der eifrigsten Verfechter dieses Systems, auch deshalb machte Bush ihn zum Verteidigungsminister.
In der Debatte über die Raketenabwehrsysteme – eine abgespeckte Version von Ronald Reagans Star-Wars-Fantasien – haben Kritiker lange vor dem 11. September immer wieder darauf hingewiesen, dass die USA nicht nur durch Raketen verwundbar sind. Als prägnantestes Beispiel galt der misslungene Anschlag auf das WTC 1993, als Terroristen einen Sprengsatz in der Tiefgarage zündeten, um einen der Türme zum Einsturz zu bringen.
Was am 11. 9. 2001 geschah, hätte auch dem Letzten deutlich machen müssen, dass selbst die teuerste Streitmacht der Welt keinen absoluten Schutz bieten kann. Das aber konnten Bush und seine Berater nicht akzeptieren. Der Präsident musste die Anschläge deshalb zum Beginn eines langen Krieges erklären, an dessen Ende, so die Verheißung, die Militärmacht USA selbstverständlich siegreich dastehen würde. Es galt, den Mythos der Omnipotenz um fast jeden Preis zu bewahren.
In diesem Krieg gegen den Terror bemühen sich die USA durchaus darum, Alliierte zu finden. In Afghanistan setzten die USA in der Tat auf ein militärisches und politisches Bündnis. Doch damals gab es überschwängliche Solidaritätsadressen nicht nur von den Verbündeten, sondern von nahezu allen Staaten. Es gab also genügend willige Bündnispartner: Die USA mussten sie damals nicht suchen – und ihnen auch keine Zugeständnisse machen.
Die US-Regierung achtet peinlich genau darauf, dass keine multilaterale Beteiligung zu eigenen Verpflichtungen führt. Und stets muss klar sein, dass die jeweilige Mission die Koalition zu bestimmen hat und keinesfalls umgekehrt. Mit anderen Worten: Die USA wollen internationale Einbindung, aber nur zu ihren Bedingungen. Deutlich wurde dies, als Berlin und Paris im letzten Jahr Nein zum Irakkrieg der USA sagten. Seitdem ist das unilateralistische Element in Bushs Politik offensichtlicher geworden. Neu war es nicht. Wer von dem Starrsinn der US-Regierung in der Irakfrage überrascht war, hatte Bush nach dem 11. September nicht zugehört.
Wie hartnäckig die Omnipotenzfantasien in der Bush-Regierung sind, zeigt sich spätestens seit dem Debakel im Irak nach Ende des Vormarschs auf Bagdad. Trotz der zunehmenden innenpolitischen Kritik konnte sich der Präsident nicht dazu durchringen, das Scheitern seiner ganz auf die Macht des US-Militärs gestützten Politik einzugestehen. Das kriegerische Vorgehen im Irak bereitet offenkundig den Boden für jenen Terrorismus, den dort bekämpfen zu müssen der Präsident vorgibt. Doch Bush bleibt eisern bei seinem unilateral und militärisch dominierten Kurs.
Den Glauben an die Allmacht der USA, der Bushs Politik zugrunde liegt, teilen ausgerechnet die Autoren jener wirren Verschwörungsbücher, die derzeit in den Bestsellerlisten ganz weit oben stehen. Auch für sie gilt die Prämisse: Die USA sind allmächtig, ihre Geheimdienste unfehlbar. Die USA sind so stark, sie können gar nicht angegriffen worden sein. Es muss deshalb, so der Tenor, ein gewaltiger staatlicher Apparat hinter den Anschlägen stecken. Zwanzig Prozent der Deutschen glauben dies. Was dem einen die „Achse des Bösen“, ist anderen eine verschworene Achse von Bürokraten der US-Regierung.
Die eher einfache Erkenntnis, dass Wirkung und Ursache sich nicht unbedingt proportional zueinander verhalten, zählt hier nicht. Ein mit gigantischem Militär- und Geheimdienstapparat ausgestatteter Staat darf eben nicht von einem nur kriminellen Anschlag getroffen worden sein. Schon gar nicht, wenn die Tat so erschreckend einfach und billig zu organisieren war.
Bush und die Autoren der Verschwörungsszenarien teilen somit nicht nur ein gestörtes Verhältnis zu überprüfbaren Fakten. Sie verstehen es auch in ähnlicher Weise, von wichtigen Fragen abzulenken. Dabei ist es nötiger denn je, die in der Tat mächtigen Strukturen von Geheimdiensten und Militär in den USA, inklusive ihrer Verflechtung mit Wissenschaft und Medien, kritisch zu beobachten. Wer diese Apparate dabei aber zu omnipotenten Institutionen hochstilisiert, trägt nur zu ihrer Stärkung bei. Denn die Macht dieser Apparate und damit auch die der jeweils Regierenden in Washington basiert vor allem auf dem Mythos ihrer Unverwundbarkeit und Allmacht. ERIC CHAUVISTRÉ