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Archiv-Artikel

Haut unter Schutzhülle

Erderwärmung, Geburtenschwund: Im Bochumer Theater unter Tage wurde Anja Hillings düsteres Zukunftsstück „Nostalgie 2175“ aufgeführt

Wenn man eine junge Dramatikerin erfolgreich nennen kann, dann sie. Anja Hilling, Jahrgang 1975, wird nicht nur von den größten Theaterhäusern in Wien, Hamburg, Hannover oder München uraufgeführt, sondern auch häufig nachgespielt, was für Theaterautoren zuweilen noch wichtiger ist. Sie ist mittlerweile in viele Sprachen übersetzt und auch in Frankreich sehr gefragt.

Anja Hillings Stücke berühren, weil sie eine poetische und immer wieder auch humorvolle und bodenständige Sprache mit Geschichten verbindet, die um existenzielle Konflikte und Gefühle kreisen. Die Uraufführung von „Nostalgie 2175“ von Rafael Sanchez am Thalia-Theater kam im letzten Jahr bei der Kritik schlecht weg und wurde als „platte Endzeitfarce“, „schematisch“ und „überkonstruiert“ bezeichnet. Zwar liegt die Gefahr bei Anja Hillings Stücken in der metaphorischen und psychologischen Überfrachtung, trotzdem ist „Nostalgie 2175“ ein ungewöhnliches Stück. Es ist eine Dreiecksgeschichte, die in der Zukunft spielt und die Fragen der Gegenwart – Erderwärmung, Geburtenkrise – ironisch-pathetisch auf die Spitze treibt.

Im Jahr 2175 herrschen immer 60 Grad, ins Freie kann man nur mit Schutzkleidung, die frühere Welt wird mit großen Aufwand künstlich imitiert, es gibt keine natürlichen Geburten mehr. Pagona ist dennoch schwanger geworden, von Posch, dem Chef ihres Freundes Taschko. Denn Taschko kann sie nicht berühren, seitdem er im Freien vergewaltigt wurde und seine Haut verbrannt ist. Pagona entschließt sich, ihr Baby auszutragen, auch wenn sie vermutlich daran sterben wird. Das Stück entsteht im Rückblick, weil Pagona ihrem Kind auf Video von seiner Entstehung erzählt.

„Nostalgie“ passt als Titel – ein wehmütiger Rückblick darauf, wie die Welt vielleicht einmal gewesen sein wird, eine Variation über die Verschiebung der Grenzen zwischen Künstlichkeit und Natur, über Isolation und Öffnung, (Haut-)Berührung und Distanz. Im Bochumer Theater unter Tage, kurz bevor Regisseur und Autor Kristo Sagor endgültig aus seinem öffentlichen Wohn-Theaterprojekt auszieht, wurde die Regieassistentin Charlotte Van Kerckhoven mit ihrer ersten Arbeit betraut. Gummiplanen hängen von der Decke, die sich in 90 Minuten eine nach der anderen ablösen, abschälen wie jene Haut, die Taschko verbrannt wurde, sie symbolisieren auch die lebensnotwendigen Filter und Schutzhüllen. Mit Videoprojektion können sie aber auch ohne weiteres zu einem See werden, in dem sich Taschko und Pagoda zum ersten Mal nahekommen und fernbleiben zugleich – eine schöne Szene, in der sie sich wie Kinder verfolgen und doch immer voreinander zurückschrecken, in einem einfachen und sinnfälligen Bühnenbild (Sebastian Kloos).

Jele Brückner ist eine etwas zu rotzige Pagoda. Sie fuchtelt mit dem altertümlichen VHS-Rekorder herum, bespricht ihn von allen Seiten, was eher unfreiwillig komisch wirkt, und versucht halbherzig, eine künstliche Distanz zu ihrer pathetischen Figur aufzubauen. Das misslingt ihr, weil Hillings Stücke mit so viel Psychologie geschrieben sind, dass sie ernstgenommen werden sollten. Martin Rentzsch als Posch ist durchweg mit Insekten tätowiert und bewahrt seiner Figur ein düsteres Geheimnis, wenn er sich wie beiläufig eine Spritze in die Wange jagt. Er fängt den umsatzbewussten Chef gut ein, der mit seiner Haut-Firma „Dermaplast“ viel Geld verdient – Schutzhaut, auf die Taschko Filmstills der Vergangenheit malt (ein standardblauer Himmel muss immer dabei sein). Posch ist aber auch ein rückwärtsgewandter und rachsüchtiger Macho, der beide Protagonisten begehrt. Taschko (Maximilian Strestik) dagegen ist ein schüchterner Junge, dem man die Verletzung und das halbherzige Begehren anmerkt.

Einzig der Umgang mit der Videoprojektion wirkt kaum durchdacht: die Bilder, die Pagoda vermeintlich für ihr Kind erzeugt, werden nie gezeigt. Willkürlich werden Bilder aus dem Innenraum zwischen den Folien herausprojiziert, dann wieder das Video als schlichtes Bühnenbild eingesetzt.

Dennoch zeigt Charlotte Van Kerckhoven, dass Anja Hilling ein gutes Stück geschrieben hat, dass sich noch für den kleinsten Raum eignet und dennoch große Dimensionen und Konflikte in sich trägt. An Erderwärmung und Geburtenrückgang wird es nicht viel ändern, vielleicht aber die Wertschätzung einer der interessantesten deutschen Gegenwartsautorinnen weiter steigern.

DOROTHEA MARCUS