Der Bedrohung nahe

Man sieht sich an und hört sich zu: Nichts ist selbstverständlich in der Aufführung von Mozarts Requiem im Radialsystem. Der Dirigent wird geprügelt, die Geigen fehlen und Glück entsteht zuletzt

VON KATHARINA GRANZIN

Ein riesiger Stuhlhaufen dominiert den Szenenhintergrund in der großen Halle des Radialsystems. Seine permanente Präsenz wirkt bedrohlich; zumal das Arrangement so locker zusammengefügt scheint, dass man um die Sicherheit des künstlerischen Personals fürchten möchte, das in seiner Nähe tätig ist. Doch dann kommt der Moment, in dem ein neuer Stuhl von oben auf den Haufen kracht. Kawumm. Und: Er hält doch!

Nun lässt sich entspannt auf die nächste Musik warten, ohne dass ein Unglück zu befürchten ist. Und auch wenn nun schon wieder ein armer Stuhl seiner Bestimmung hier auf Erden entzogen wurde, so stehen ja noch genug davon auf der Bühne herum, die fleißig benutzt werden.

Im Schatten der Stühle erlebt Mozarts Requiem im Radialsystem einen neuen Versuch der szenischen Umsetzung. Regisseur Andreas Bode und der musikalische Leiter Tobias Schwencke verlangen den vier Sängern und acht Musikern einiges ab, denn sie müssen den Abend auch darstellerisch bestreiten. Das ist allerhand, vor allem für die Instrumentalisten, in deren Arbeitsplatzbeschreibung pantomimische Tätigkeiten vor Publikum normalerweise nicht verzeichnet sind. Und es ist nicht ihre Schuld, wenn man über weite Strecken tatsächlich glauben könnte, man sehe der Schultheater-AG beim Improvisationsworkshop zu. Denn ein Problem, mit dem diese Inszenierung zu kämpfen hat, ist die Aufnahmefähigkeit des Zuschauers. Da permanent zwölf Akteure die Bühne bevölkern und sich dabei reichlich individualistisch gerieren, sind ununterbrochen Entscheidungen darüber zu treffen, wohin man den Fokus seiner Wahrnehmung richten soll.

Es gibt natürlich so Momente: Wenn der Bass dem Sopran das Knie umklammert und dabei „Mama“ ruft oder der Sopran mit dem Tenor Kopulationsbewegungen simuliert, heischt das automatisch Aufmerksamkeit. Ansonsten bleibt ein Eindruck von allzu demonstrativem Gewusel. Über dem Stuhlhaufen hängt überdies eine große Anzeigentafel, auf der die Übersetzungen der lateinischen Requiemtexte eingeblendet werden, was praktisch ist, und, wenn es statt Musik gerade Gewusel gibt, Zitate von Georges Bataille zu lesen sind. Aber der Versuch, gleichzeitig die Texte zu verstehen und das Bühnengeschehen zu enträtseln, macht Kopfschmerzen.

Aber dann gibt es ja noch Mozart. Tobias Schwencke, auch selbst mit Mozart-Mähne an der Hammondorgel dabei, hat sich die Freiheit genommen, die Mozart-Süssmayr’sche Vorlage ein wenig umzuarrangieren. Die vier Sänger übernehmen die Chorpartien mit, die Instrumentalstimmen sind nur einfach besetzt, was jeden einzelnen Musiker in den Rang eines Solisten erhebt. Eine E-Gitarre sowie die Hammondorgel werden in das kleine Ensemble integriert. Dafür fehlen die sonst so unverzichtbaren Geigen – worauf gleich im Intro unmissverständlich hingewiesen wird, denn ihre auf den ersten Basseinsatz hinführenden, dramatischen Synkopen sind ersatzlos gestrichen worden. Einen geradezu zauberischen Moment ermöglicht ihre Abwesenheit wiederum in den ersten Takten des Lacrimosa, worin die E-Gitarre, so ätherisch-jenseitig klingend, wie keine Geige es je könnte, deren Achtel übernimmt.

Wer außerdem fehlt, ist der Dirigent. Nicht ganz allerdings; es taucht irgendwann einer auf, zeigt karajanesk das Profil und wedelt mit den Armen, bis er vom Ensemble blutig geprügelt wird und seine Gitarre wiederbekommt. Von diesem Intermezzo an ist die szenische Gestaltung endlich bei der Musik angekommen. Die Darsteller agieren nicht mehr vereinzelt, sondern als Ensemble, die wuselige Nummernrevue ist abgelöst worden vom darstellenden Musizieren.

Es ist beglückend, zu sehen und zu hören, wie die Musiker selbst die schwierigen Fugen gemeinsam meistern, ohne sich an einer externen Instanz orientieren zu müssen. Das geht natürlich nur, wenn man alles, alles auswendig spielt und singt; man sieht sich an und hört sich zu. Es ist eine große musikalische Ensembleleistung. Kleine Uneinigkeiten und intonatorische Wackler nimmt man da fast schon dankbar wahr. Denn nichts an diesem Mozart, das hat dieser Abend gezeigt, sollte selbstverständlich sein.

14. und 15. März, 20 Uhr, Radialsystem