Die armen Nachbarn

Die Bilder vom Terrorüberfall am Einschulungstag im nordossetischen Beslan haben uns Angst gemacht – und unsere Vorurteile über den versagenden russischen Staat einmal mehr bestätigt

VON JAN FEDDERSEN

Der Terrorüberfall auf eine Schule im südrussischen Beslan muss einen besonderen Nerv beim zuschauenden Publikum getroffen haben. Anders wäre nicht die hohe Zuschauerzahl des „Brennpunkt“ in der ARD zu erklären. 4,32 Millionen Menschen wollten, gleich nach der „Tagesschau“, Näheres wissen – ein, so die ARD, ungewöhnlich hoher Zuschaueranteil von 17,6 Prozent für eine Informationssendung an einem Freitagabend. Ähnliche politische Sondersendungen (wie so häufig zum Nahen Osten) fanden (und finden) dieses Interesse nicht. Aber in den Berichten über das blutige Höllenkommando irgendwo in den Tiefen des früheren russischen Imperiums wurden unterschiedliche Erzählungen weitergesponnen – und wurde Archaisches in die Jetztzeit gespiegelt. Und das mit der Kraft von Bildern voll Blut und Furcht – fliehende, nur noch mit Unterhosen bekleidete Menschen; Kinder, deren Gesichter starr vor Entsetzen waren; Eltern, deren Verzweiflung wie greifbar schien. Und alles als nackte Realität, fast als Liveübertragung. Keine Soap, keine Fiktion, „Albtraum Alltag“ (AFP).

Bürger ohne Schutz

Die Erzählung, an die angeknüpft werden konnte, ist die über die schweigsamen, lügenden, die Wahrheit vernebelnden Russen, deren Eliteeinheiten nicht einmal den Namen verdienen, den sie beanspruchen. Sie handelt von einem Land, in dem die Wendung vom „kurzen Prozess“, den man Unbotmäßigen machen will, noch Kraft hat; ein Land, das seine Bürger nicht zu schützen vermag, weder vor der Zukunft noch vor der Hoffnungslosigkeit des Terrorismus. Ein Land, das in sich korrupt ist (die Militärfahrzeuge, mit denen die Geiselnehmer ins Schulgelände fuhren, sollen von russischen Soldaten „gemietet“ worden sein) – und lediglich den Starken mimt, weil es keine Kraft mehr hat. Nur noch die Geste des Drakonischen, ohne wirklich eine Krise lösen zu können: Russisches – das ist nicht erst seit dem Scheitern des Sozialismus das Muster für Schlamperei, Ineffizienz – für Nichtgelingen schlechthin.

Die mächtige Furcht, die die Bilder aus Beslan auch hierzulande ausgelöst hat, ist obendrein in der hohen Identifikation mit der Situation der Terroropfer begründet: der Einschulung. Dem Moment, in dem Eltern ihre Kinder aus dem Nest lassen und sie nichtfamilialen Zusammenhängen überantworten. Welch Horror, sie gerade in der Sekunde nach dem Abschied aus der exklusiv familiären Verantwortung als Material auf den killing fields der sowjetischen Erb- und Hinterlassenschaften zu sehen.

Die Bilder, nicht nur jene, die die ARD aufbereitete, auch die all der anderen Sender, ob privat oder öffentlich-rechtlich, hatten noch eine andere Assoziationsspur gelegt. Die der Trostlosigkeit einer Situation, die in westlichen Kreisen nicht bekannt ist – dass Frauen des Terrorkommandos wie schon andere Tage zuvor in Moskau als „Schwarze Witwen“ unterwegs waren. Frauen, deren Männer von Russlands Law and Order getötet wurden, in Tschetschenien, in den Folterkellern der Geheimpolizeien, irgendwo jedenfalls, wo es keinen Rechtsstaat gibt.

Gewöhnt an Terror?

Die Bilder bestätigen, was man – nicht allein – hierzulande über Russland ohnehin zu wissen glaubt, nicht erst seit dem Fall des Eisernen Vorhangs: Man hat es mit Blut und Tränen zu tun und mit Unsicherheit überhaupt. Mit Menschen, die an den Verhältnissen scheitern und die jetzt nicht einmal einen unschuldigen Termin wie die Einschulung von Kindern ohne Angst feiern können.

„Ich glaube, dass es einen Gewöhnungseffekt gibt“, sagte der Medienwissenschaftler Joe Groebel kürzlich einer Nachrichtenagentur. Woher er diesen Glauben nimmt, muss offen bleiben, denn Belege dafür gibt es keine: Menschen identifizieren sich, bar aller Bereitschaft zur Routine, mit allem, was ihre Leben berühren könnte. Der Nahe Osten ist ihnen fern, so wie Ruanda, Sudan, Afghanistan oder Irak.

Eine Schule in Russland ist an der (wahren oder gefühlten) Lebenswirklichkeit der Menschen zu nah, als dass eine dort stattfindende Tragödie ohne Resonanz in den kollektiven Gefühlen bleiben könnte. So wie ein Fährunglück (wie das der „Estonia“) berührte oder ein Lawinenunglück (im österreichischen Galtür): Entsetzliches aus inneren oder äußeren Nachbarschaften.