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Archiv-Artikel

Abschreckung ohne Waffen

Wie kann man Menschenrechtler in ihrer Heimat vor Attentaten schützen? Die Peace Brigades haben eine erfolgreiche Strategie entwickelt. Das Porträt einer ehemaligen Freiwilligen

VON UTE SCHEUB

Ohne Christiane Schwarz hätte der kolumbianische Rechtsanwalt Alirio Uribe Muñoz vielleicht nie den renommiertesten aller internationalen Menschenrechtspreise erhalten können. Ohne sie wäre der Anwalt vielleicht längst tot – erschossen bei jener Veranstaltung in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá, an die sie so unangenehme Erinnerungen hat. Vielleicht. Sicher ist nichts in Kolumbien. Anschläge auf Personen zu verhindern, die sich in Bürgerkriegsländern für Frieden und Menschenrechte einsetzen, das ist die Arbeit von Christiane Schwarz’ Organisation, den Peace Brigades International (PBI). „Der Erfolg unserer Arbeit misst sich daran, dass nichts passiert“, sagt die 39-jährige Deutsche.

Weil nichts passiert ist, konnte Alirio Uribe im März 2003 im schweizerischen Genf den Martin-Ennals-Preis entgegennehmen, benannt nach dem ersten Generalsekretär von Amnesty International. Die zehn weltweit wichtigsten Menschenrechtsorganisationen – Amnesty, Human Rights Watch und andere – verleihen ihn jährlich an diejenigen, „die im Kampf um die Menschenrechte außerordentlichen Mut bewiesen haben“. Uribe, Vorsitzender eines Anwaltskollektivs in Bogotá, erhielt ihn für seine über ein Jahrzehnt währenden Bemühungen, Morde und Massaker aufzuklären, die Militärs oder Paramilitärs an Zivilpersonen begangen hatten. Uribe hat außerordentlichen Mut bewiesen, er hat aber auch außerordentliche Angst erleiden müssen angesichts zahlloser Todesdrohungen gegen ihn. Die Freiwilligen der Peace Brigades, die ihn beschützen, haben ebenfalls Mut und Angst in hohen Dosen erlebt. Im Jahr 2001, zwei Jahre vor Alirio Uribe, wurde ihnen für ihren Begleitschutz ebenfalls der Martin-Ennals-Preis überreicht.

Anwalt Alirio Uribe hat den Mut, Klartext zu reden. Auch in Genf bei seiner Dankesrede: In Kolumbien seien im Namen des „Kampfes gegen den Terrorismus“ gerade „die letzten Reste der Rechtsordnung zerstört und die Bürgerrechte beseitigt“ worden, und „mit der zunehmenden Intervention der USA nimmt auch der Krieg zu“. In den letzten vier Jahren hätten die schlimmsten Kriegsverbrechen stattgefunden. Im Durchschnitt seien jeden Tag ein Massaker und zwanzig politische Morde verübt worden, mehr als zehntausend Menschen seien entführt, mehr als eine Million sei vertrieben worden – andere sprechen von über zwei Millionen. Die Regierung unter Präsident Álvaro Uribe Vélez – mit Alirio Uribe Muñoz weder verwandt noch verschwägert – habe einen „totalen Krieg“ gegen angebliche Terroristen in Aussicht gestellt, in dem keine Neutralität geduldet werde. Des Präsidenten Vorbild in Washington formulierte es so: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“

Seit dem 11. September 2001, ergänzte ein Kollege des Preisträgers vom selben Anwaltskollektiv in einem Beitrag für die Zeitschrift der Peace Brigades, sei das Eintreten für die Menschenrechte noch gefährlicher geworden. Aber die sichtbare Präsenz der unbewaffneten Freiwilligen von Peace Brigades International schrecke potenzielle Attentäter ab: „Ich kann versichern, dass der Umstand, dass wir heute noch leben, ganz grundlegend mit der Arbeit der Peace Brigades zusammenhängt.“

Auch Alirio Uribe wird sich sicherer gefühlt haben, als ihn Christiane Schwarz während ihres zweijährigen Aufenthalts in Kolumbien verschiedene Male begleitete. So zum Beispiel zu jener Veranstaltung in der Universität von Bogotá. Es ging um ein vergleichsweise harmloses Thema, um die Vorstellung eines Buchs zur Gesundheitsreform – doch was ist in Kolumbien schon harmlos?

„Alirio Uribe war damals der am meisten Bedrohte des ganzen Anwaltskollektivs“, berichtet die ehemalige Freiwillige. „Er hatte ein schusssicheres Auto besorgt. Ich fühlte mich wie in einem Panzer, das machte mich richtig nervös, sonst bin ich das nicht. Wir kamen zur Universität, er setzte sich mit aufs Podium, und ich saß in der ersten Reihe. Mir fiel jemand auf, der anders als die anderen Zuhörer seine Garderobe, einen langen Trenchcoat, nicht abgegeben hatte. Er hatte ganz offensichtlich einen festen Gegenstand in der Tasche und setzte sich auch nicht hin, sondern ging immer auf und ab.“

Christiane Schwarz war sich sicher, dass der Mann eine Waffe in der Tasche trug. „Wenn wir wie sonst mit dem Taxi gefahren wären, wäre ich vielleicht nicht so aufmerksam gewesen. Ich habe versucht, diesen Mann im Auge zu behalten. Und ihm zu zeigen, dass ich ihn beobachte. Schließlich war die Veranstaltung zu Ende, und ich dachte, wir gehen jetzt sofort. Eigentlich hält sich Alirio Uribe seit Jahren keine Sekunde länger als nötig im öffentlichen Raum auf – solch ein Lebensstil muss schrecklich sein. Ganz entgegen seiner Gewohnheit blieb Alirio Uribe aber noch auf dem Podium und unterhielt sich. Zum Glück waren noch zwei andere Mitglieder der Peace Brigades im Raum – interessehalber, nicht weil sie jemanden begleiteten. Ich bat sie, den ‚Trenchcoat‘ im Auge zu behalten, und sprach den Anwalt an: ‚Wir müssen jetzt sofort gehen.‘ So etwas ist eigentlich nicht meine Aufgabe, ich habe es niemals vorher so gemacht, und mir tat es Leid, weil er gerade so entspannt war. Wir verließen schnell den Raum, und alles ging gut. Wer weiß, was passiert wäre, wären wir nicht dabei gewesen. Unsere Arbeit ist schwer messbar. Wenn nichts passiert, kann man nie sagen, woran es gelegen hat.“

Das klingt gut. So heldenhaft! Aber Christiane Schwarz sieht sich nicht als Heldin. Der Job sei weniger gefährlich, als es klinge. Die Arbeitsweise der 1981 in Kanada gegründeten Friedensorganisation ist in der Tat so durchdacht, dass es in den 23 Jahren ihrer Existenz keinen einzigen Toten gab. Keiner der Menschenrechtsverteidiger kam während einer Begleitung ums Leben, und auch niemand von den über tausend Freiwilligen der Peace Brigades, die sie begleitet haben. Drohungen, Einschüchterungen, auch Überfälle, die gab es allerdings immer wieder.

Die Arbeitsphilosophie der Peace Brigades geht auf Mahatma Gandhi zurück. Die Prinzipien der Gewaltlosigkeit und Nichteinmischung sollen den begleiteten Menschenrechtsgruppen einen politischen Handlungsspielraum eröffnen – making space for peace, lautet das Motto. Ein weiteres Prinzip: Die Friedensbrigaden werden nur auf Anfrage der Betroffenen tätig.

Derzeit sind rund siebzig Freiwillige in sechzehn Ländern im Einsatz, unter anderem in Kolumbien, Guatemala, Mexiko und Indonesien. Die Mehrheit davon sind Frauen. Zwar sind es meistens Männer, die Trainings leiten oder die Organisation auf großen Konferenzen repräsentieren, aber das Internationale Büro ist ausschließlich mit Frauen besetzt, und alle Projekte und fast alle Ländergruppen werden von Frauen koordiniert. Warum das so ist, darüber kann Christiane Schwarz nur spekulieren: „Ich glaube, dass Frauen besser dreitausend Dinge gleichzeitig bedenken und berücksichtigen können.“ Es könne auch sein, dass Männer eher glaubten, ein Jahr als Freiwilliger im Ausland sei ein „verlorenes Jahr“.

Christiane Schwarz kommt aus einer, wie sie sagt, „ganz normalen Familie“. Sie ist in Celle aufgewachsen. Ihre Mutter war Schreibkraft beim Oberlandesgericht, ihr Vater Manager in einer US-Ölfirma. „Meine Eltern haben mir beigebracht: Gerechtigkeit ist ein hoher Wert. Wir sind als Kinder dazu ermutigt worden, einzustehen für das, was wir richtig finden, es laut zu sagen, auch wenn wir damit alleine stehen.“ Nach dem Abitur reiste sie durch Mexiko und studierte danach spanischsprachige Literatur, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Hamburg und Madrid. Drei Jahre lang arbeitete sie als deutsche Koordinatorin in der Hamburger Zentrale der Peace Brigades. Danach absolvierte sie zusammen mit weiteren 14 Freiwilligen eine halbjährige Ausbildung für ihren Einsatz in Kolumbien, der von 1999 bis 2001 dauerte. Seit ihrer Rückkehr arbeitet sie im Verein „Kolko“, der von Berlin aus Menschenrechtsprojekte in Kolumbien koordiniert.

Christiane Schwarz gehörte zu den ersten Personen, die im Rahmen des neu gebildeten zivilen Friedensdienstes für zwei Jahre als Friedensfachkraft ins Ausland geschickt wurden. Das Forum ziviler Friedensdienst, 1996 von rund vierzig Friedens- und Menschenrechtsorganisationen als Dachverband gegründet, führt in Krisengebieten Projekte der so genannten zivilen Konfliktbearbeitung durch. 1998 verpflichtete sich die neu gewählte rot-grüne Bundesregierung, die mehrmonatige Ausbildung der Freiwilligen zur Friedensfachkraft zu finanzieren. Seitdem ist der zivile Friedensdienst eine Alternative zur hirn- und fantasielosen „Konfliktlösung“ mit Waffengewalt – auch als moralische Konsequenz aus der kriegerischen deutschen Geschichte.

In den ersten anderthalb Jahren ihres Einsatzes in Kolumbien begleitete Christiane Schwarz MenschenrechtsverteidigerInnen in der quirligen, lebendigen, verslumten Fünf-Millionen-Metropole Bogotá. Danach schützte sie sechs Monate lang so genannte Friedensgemeinden in der Region Urabá. Aus dieser Region an der Grenze zu Panama werden besonders viele Kleinbauern vertrieben, denn unter Geschäftemachern gilt sie wegen ihrer üppigen Natur, ihrer potenziellen Uran- und Ölvorkommen und ihrer verkehrsstrategischen Lage als „beste Ecke Amerikas“. Die Paramilitärs und Todesschwadrone, die die Vertreibungen organisieren, sind die rechte Hand der reichen Oligarchie. Diese, von der US-Regierung wohlwollend unterstützt, möchte Kolumbiens Naturreichtümer im neoliberalen Ausverkauf feilbieten.

Angst und Gewalt sind die wichtigsten Rohstoffe des Landes geworden. Die entwickeltsten Industrien sind die Entführungsindustrie und als ihr Gegenüber die private Sicherheitsindustrie mit rund dreitausend Unternehmen und mehr als 130.000 Angestellten. Hinzu kommt die staatliche Sicherheitsindustrie: das Militär mit seinen 158.000 Soldaten sowie rund 18.000 Paramilitärs. Zusätzlich kompliziert wird diese Gemengelage durch den Drogenhandel, durch den sich die Paramilitärs finanzieren, den die US-Behörden aber zumindest nach außen hin bekämpfen. Seit das US-Parlament im Jahr 2000 den „Plan Colombia“ zur Kokabekämpfung verabschiedete, sind fast zwei Milliarden Dollar nach Kolumbien geflossen. Der Koka-Anbau ist dennoch weiter angestiegen; der Hauptteil der Dollars floss in die Aufrüstung der Armee und die Aufstandsbekämpfung.

Auf die Peace Brigades wartet in Kolumbien Arbeit ohne Ende, es ist ihr größtes Landesprojekt. Rund vierzig Freiwillige arbeiten in vier unterschiedlich großen Teams in den Regionen Bogotá, Urabá, Medellín und Barrancabermeja. Die Begleitung allein, so Christiane Schwarz, entfalte noch keine ausreichende Schutzfunktion; dafür seien kontinuierliche politische Aktivitäten und Analysen unerlässlich. Den Peace Brigades geht es darum, die „politischen Kosten“ eines möglichen Attentats so zu erhöhen, dass sie für die Täter zu hoch werden. Wenn die Friedensbrigaden jemanden zu begleiten beginnen, informieren sie die nationalen Sicherheitsbehörden über ihre Aktivitäten, die UN-Behörden vor Ort, internationale Menschenrechtsorganisationen und die Botschaften der Länder, aus denen die Freiwilligen kommen. Für potenzielle Attentäter ergibt sich daraus die Gefahr, zum Zentrum eines öffentlichen Skandals oder diplomatischer Verwicklungen zu werden, wenn sie einen Gewaltakt begehen.

So wie im Februar 2001, als Unbekannte ein Frauenhaus der von den Peace Brigades begleiteten Feministischen Volksorganisation (OFP) in Barrancabermeja überfielen, einem der Freiwilligen Telefon und Pass abnahmen und erklärten, die Peace Brigades seien von nun an ein militärisches Ziel. Der von den Überfallenen ausgelöste internationale Alarm zeigte Wirkung: Die Botschaften der EU-Länder, Kanadas und der USA intervenierten. Wenige Tage später lieferte ein unbekannter Mann alle beschlagnahmten Utensilien wieder ab, und die Paramilitärs beeilten sich, sich von der Tat zu distanzieren.

Begleiten heiße nicht, Bodyguard zu sein, formulierte Christiane Schwarz im Sommer 2003 vor zweitausend Zuhörenden auf dem Ökumenischen Kirchentag in Berlin. Begleiten heiße, den Menschen in Bedrohungssituationen beizustehen, sie tiefer kennen zu lernen, ihre Gewohnheiten, ihre Familie, ihre Gefühle. Das erfordere „Diskretion, Fingerspitzengefühl, Empathie. Begleiten ist sehr intim, rührt an die eigene Seele.“ Begleiten bedeute, den Menschen einen Spielraum zur Lösung ihrer Probleme zu eröffnen. Menschen, die sich sicherer fühlten, könnten sicherer handeln und mehr wagen. Denn: „Begleiten macht Mut.“

UTE SCHEUB, geboren 1957, lebt als Autorin in Berlin. Ihr Text ist die stark gekürzte Fassung eines Kapitels aus ihrem neuen Buch „Friedenstreiberinnen“, Psychosozial Verlag, Gießen, 256 Seiten, 16,90 Euro