Jonathan Lethem liest im Literaturhaus aus „Die Festung der Einsamkeit“
: Eine kleine Geschichte Brooklyns

Wenn New York City immer wieder mit seinem Bezirk Manhattan gleichgesetzt wird – nicht nur, aber gerade auch in den Augen Fremder –, dann liegt das nicht an Autoren wie Paul Auster oder Jonathan Lethem. So wies Auster, der nahezu sein gesamtes Oeuvre in Brooklyn angesiedelt hat, einst in einem Interview darauf hin, dass nur wenige andere Orte in den Vereinigten Staaten „eine größere poetische Tradition“ hätten als das besagte borough.

Auch Lethem, eine schreibende Generation jünger als Auster und regelmäßig in einem Topf mit Jeffrey Eugenides, Colson Whitehead oder auch Jonathan Franzen wiederzufinden, tut sein Möglichstes, der bis zu ihrer Eingemeindung drittgrößten Stadt des Landes zur gebührenden Aufmerksamkeit zu verhelfen.

Gerade mal 40 Jahre alt, hat Lethem mit Die Festung der Einsamkeit bereits seinen sechsten Roman vorgelegt, den fünften, der ins Deutsche übersetzt wurde. Und was für einen: Auf knapp 700 Seiten erzählt Lethem da zunächst auf ganz wunderbare Weise die durchaus autobiographisch befeuerte Geschichte von Dylan Ebdus, der im Brooklyn der frühen 70er Jahre aufwächst – genauer gesagt in einem Teil Brooklyns, den die einen schlicht „Gowanus“ nennen, die anderen, nach Höherem strebend, „Boerum Hill“, was nach der Frühzeit weißer Besiedlung des Kontinents klingt. Ebdus ist eins von drei weißen Kindern auf der örtlichen Public School, wie seine ambitionierte Hippie-Mutter stolz verkündet. Später wird sie Brooklyn den Rücken kehren und im Leben ihres Sohnes nur noch in Form von maschinengeschriebenen Postkarten präsent sein.

Was als reformerisches Projekt gemeint gewesen sein mag, zumindest aber als liberales Statement, nämlich als weiße Familie in die mehrheitlich afro- und hispanoamerikanische Umgebung zu ziehen, bedeutet aus Sicht eines whiteboy in zu kurzen Hosen und dem falschen Schuhwerk freilich eher ein Verurteiltsein zu Drangsaliertwerden und Einzelgängertum. Und schließlich wird es – im Nachhinein – als Avantgarde der gentrification gedeutet werden, zu deren Symptomen eben nicht zuletzt die Verdrängung der weniger zahlungskräftigen Bevölkerung durch die – weißen – manhattanites gehört.

Anders als seine Hauptfigur war Lethem selbst kein Einzelkind, und die Ehe seiner Eltern hielt, bis seine Mutter starb. Aber wenn er die Dean Street beschreibt, in der und um die herum sich mehr als die Hälfte des Romans abspielt, tut er das in so scheinbar einfacher wie präziser Sprache, im Tonfall desjenigen, der weiß, wovon er spricht. „Nicht, dass die Kinder Porträts derjenigen sind, die ich kannte“, sagt Lethem heute in Interviews. „Aber die Welt, die sie kennen, ist die, die auch ich kannte.“

Die Festung der Einsamkeit ist indes mehr als eine Adoleszenzgeschichte, exemplarisch aufgehängt am (weißen) Dylan und seinem besten Freund, dem (schwarzen) Nachbarsjungen Mingus Rude, der ebenfalls ohne Mutter aufwächst. Lethem erzählt, ganz nebenbei, eine Geschichte Brooklyns, ach was, New York Citys; voll unromantischen Respekts vor seinen merkwürdigen Bewohnern und voller Leidenschaft für seine spezifische Popkultur, für Soul, Funk und HipHop, Graffiti und Comics. Und manchmal können die Hauptpersonen in dem Roman, immerhin betitelt nach der Zuflucht Supermans, sogar selbst fliegen. Alexander Diehl

Jonathan Lethem: „Die Festung der Einsamkeit“, Köln 2004; 700 S., 24,90 Euro. Lesung: 24.9., 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38