: Der leserfreundliche Literaturprofessor
Der Göttinger Wissenschaftler Heinrich Detering nimmt den mit 2,5 Millionen Euro dotierten Leibniz-Preis entgegen. An seiner Arbeitsweise wird der Geldsegen nichts ändern: Er wird weiter früh aufstehen und Texte für ein breites Publikum schreiben
Im Bordrestaurant des ICE von Kiel nach Hamburg gibt es diesmal Rinderrouladen mit Holunder-Möhrchen und Pommes-Gratin. Das sagt der Zugführer zu Beginn der Fahrt. Es ist Standard mittlerweile, dass der Zugführer im ICE über die Lautsprecher aus der Speisekarte vorliest. Vermutlich fällt das den meisten Leuten nicht mehr auf. Sie hören es nicht mehr, so wie man einen Tinnitus nicht mehr hört, wenn man ihn lange genug hat.
Bei Heinrich Detering ist das anders. Die Speisekarten-Information reißt ihn jedes Mal aus seinen Gedanken. Und das ärgert ihn, sind doch Zugfahrten für den 49-Jährigen eine Gelegenheit, die Gedanken schweifen zu lassen, anstatt sie zu konzentrieren. Den Zugfahrten kommt eine gewisse Bedeutung zu in Deterings Art, zu arbeiten. Die Zugfahrten tragen ihren Teil bei zur Bilderbuchkarriere des Literaturwissenschaftlers, der am Montag um 15 Uhr in Berlin den Leibniz-Preis entgegennimmt.
Der Leibniz-Preis wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) vergeben und ist mit 2,5 Millionen Euro dotiert. Das Geld müssen die Preisträger innerhalb von sieben Jahren in ihre Forschung investieren – wie, das bleibt ihnen überlassen. Der Leibniz-Preis ist der am höchsten dotierte deutsche Förderpreis. Detering sagt, er habe vor ein paar Monaten einmal einen Luftsprung vor Freude gemacht, als die DFG eine Förderung über 80.000 Euro für sein Storm-Fontane-Projekt bewilligte. Nun bekommt er 2,5 Millionen.
Detering lebt mit seiner Familie in Kiel und ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Göttingen. Er ist er Mitglied in verschiedenen Akademien, zum Beispiel der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Er war Gastprofessor in Dänemark und Washington. Er hat etliche Preise bekommen, unter anderem den „Preis der Kritik“ für seine Literaturkritiken in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Es gibt Zeiten, in denen fliegt Detering viel. Ansonsten hat er eine Bahncard 100.
Neben Detering bekommen zehn andere Wissenschaftler heute einen Leibniz-Preis. Detering ist der einzige Geisteswissenschaftler und wird die Dankesrede halten, weil es ohne Worte beim größten aller deutschen Wissenschaftspreise nicht geht und man den Geisteswissenschaftlern am ehesten zutraut, mit Worten umzugehen.
Detering wird das wenig stressen. Er ist ein Literaturprofessor, der schon immer selbst schreibt, und zwar nicht nur wissenschaftliche Texte. „Schwebestoffe“ heißt ein Gedichtband, der beim Göttinger Wallstein-Verlag erschienen ist. Dieses Jahr soll ein weiterer folgen. Ferner gibt es die FAZ-Kritiken, Essays und die wissenschaftlichen Arbeiten. Detering sagt: „Für mich haben Lesen und Schreiben, in unterschiedlichen Formen, immer zusammengehört.“
Die DFG schreibt, Detering habe sich als „ebenso wortmächtig wie textnah und leserfreundlich“ erwiesen. Sie hat beeindruckt, dass Detering einem „breiteren Publikum“ bekannt ist und „bislang unbeachteten Zusammenhängen nachspürt“. Als Beispiel dafür nennt die DFG Deterings Habilitation, in der es um den Einfluss unterdrückter Homosexualität von Schriftstellern auf deren Literatur geht. „Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann“ heißt die Arbeit.
Detering hat sich nie festgelegt auf ein Gebiet. Er hat über religiöse Motive bei Wilhelm Raabe promoviert, hat Hans Christian Andersen übersetzt und ein gelbes Reclam-Bändchen über Bob Dylan veröffentlicht. Er hat keinen Schwerpunkt und hat es geschafft, dadurch nicht unkenntlich zu werden. Stattdessen nimmt man ihn wahr als den Mann mit den vielen Schwerpunkten. Zur fachlichen Kompetenz kam im Lauf der Jahre die Eigendynamik des Erfolgs. Mit der hat er nicht gerechnet. Aber genießen tut er sie durchaus.
Detering studierte auf Lehramt, als er bei einer Hausarbeit über den mittelalterlichen Alexanderroman merkte, dass die Literaturwissenschaft seine Berufung ist. Hinzu kam, dass er, wenn er von einer Lektüre begeistert war, „immer eine gewisse Mitteilungsfreude“ gehabt habe. Detering kann sein Publikum mitreißen. Das ist einer der Gründe für seine Karriere.
Ein anderer hat etwas mit Glück zu tun: Während seiner Promotion hat Detering seine Liebe zu Skandinavien entdeckt und kurzerhand nebenbei ein Skandinavistik-Studium absolviert. Bei der Bewerbung um seine erste Stelle in Kiel öffnete ihm das die Tür: Er wurde Professor für Neuere Deutsche Literatur und Neuere Nordische Literaturen.
Für seine Arbeit schafft sich Detering Raum am frühen Morgen. „Das kann schon mal um 5 Uhr beginnen. Zwischen 5 und 9 ist die wachste Zeit“, sagt er. Er zieht das auch durch, wenn er auf Reisen ist. Und er ist viel auf Reisen. Weil ihm wichtig ist, dass das Theoretische zusammenkommt mit dem Wirklichen. Und weil es ihm Freude macht, Kollegen zu treffen.
Solche Treffen werden durch das Geld des Leibniz-Preises einfacher. Detering kann nun „die Projekte realisieren, die mir in den Sinn kommen. Das Geld befreit mich vom Drittmitteldruck.“ Er hat mehrere kleine Projekte geplant, etwa eine kommentierte Edition des Autoren Christian Wilhelm von Dohm, einem Spätaufklärer, der über religiöse Toleranz nachgedacht hat. Oder ein Projekt über die Erfindung der Ökologie in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Oder eines über Kunstreligionen von Klopstock bis zum Elvis-Kult.
„Ich werde so weiterarbeiten wie in den letzten 20 Jahren, nur ohne Druck“, sagt Detering. Er wolle pragmatisch Geld unter Nachwuchswissenschaftler bringen. „Begabten Absolventinnen und Absolventen kann ich jetzt sagen: Ich habe eine Mitarbeiterstelle.“ Was durch das Preisgeld möglich werden soll, seien „Stellen und gute Bücher“.
Mittelfristig wird Detering von Kiel nach Göttingen ziehen. Dass es im ICE-Bordrestaurant das Schweinefiletgeschnetzelte mit Pfirsich-Pfefferrahmsauce gibt, wird er seltener mitkriegen. Dafür gibt es ein Forschungsvorhaben mit Kollegen in Bangkok. KLAUS IRLER