Das Verbrechen am Ufer

Mit der dreitägigen Veranstaltung „Kunst & Verbrechen“ startet heute die erste Spielzeit des Theatertrios Hebbel am Ufer. Intendant Matthias Lilienthal sorgt schon vorab für Furore

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Jetzt geht es los: Heute Abend wird die erste Spielzeit im Hebbel am Ufer eröffnet. Das Motto der Eröffnungstage „Kunst & Verbrechen. Art without crime“ schreibt die Lust an der Subversion und den Zweifel groß an den institutionalisierten Formen der Kunst. Kunst und Theater werden hier erst einmal nicht von Anfang an als das Selbstverständliche gehandhabt, sondern als etwas Verdächtiges.

Denn ein Theater bespielen zu müssen, das reicht dem Intendanten Matthias Lilienthal nicht als hinlänglicher Grund für die Aufstellung eines Programms. Er tritt mit dem Anspruch an, zu jedem Stück sagen zu können, warum man sich hier und heute dafür interessieren soll. Für die Auseinandersetzung mit der Gegenwart die Instrumente der Kunst ständig neu zu schleifen und zu überprüfen, das ist für den Neuanfang die gemeinsame Idee, um drei Theater zusammenzubringen, die bisher zwar in großer räumlicher Nähe, aber doch mit verschiedenen Programmen betrieben wurden und nur noch mäßigen Erfolg verzeichneten.

Hebbel am Ufer, abgekürzt HAU, ist der neue Name für die Fusion des Hebbel-Theaters mit dem Theater am Halleschen Ufer und dem Theater am Ufer. Alle drei Häuser waren Ende der Achtzigerjahre entstanden, ein spätes Produkt der Westberliner Kultur, ihrer Stärken und Defizite: Sie reagierten in ihren Programmen zum einen auf den Druck und Erfolg des Off-Theaters und der freien Szenen, die in diesen Häusern ohne eigenes Ensembles erstmals eine professionelle Infrastruktur zur Verfügung gestellt bekamen. Zum anderen waren sie für Gastspiele offen, für den notwendigen Austausch mit den Theatern Osteuropas oder der modernen Tanzszene aus Frankreich. Ihre Unterfinanzierung war von Anfang an jedoch chronisch und zum großen Teil dafür verantwortlich, dass bald nicht mehr jeden Tag gespielt wurde, lohnenswerte Gastspiele aus dem Ausland schon verschwunden waren, bevor sie sich rumgesprochen hatten, und somit die Auslastung immer wechselhafter wurde. Das Theater am Ufer, lange Heimat von Andrej Worons Teatr Kreatur, war zum Schluss fast in so große Vergessenheit geraten wie die Figuren, die der polnische Theatermacher Woron der Vergangenheit entrissen hatte.

Die Zukunft der drei Spielstätten, nach dem Ende der Verträge von Nele Hertling als Intendantin des Hebbel-Theaters und Dirk Schlüter, dem es zuletzt in Theater am Halleschen doch noch gelungen war, frischen Wind in die Tanzszene zu bringen, lag der Berliner Kulturpolitik lange wie ein Stein im Magen. Zumal später entstandene Spielstätten im Osten der Stadt ihnen schnell jenen Status des Kultigen abgelaufen hatten, das von Berlinbesuchern auch blind besucht wird.

Mit dem Plan der Fusionierung und der Wahl von Matthias Lilienthal als Intendant (Portrait in der taz 20. 9.) hofft man nun wie mit einem Zaubertrick, diesen Altlasten zu entkommen und mit einem veränderten Profil eine neue Dynamik entfachen zu können. Er definiert die drei Bühnen als drei unterschiedliche Formate, die zusammen größere Flexibilität erlauben. Das Hebbel-Theater, „HAU eins“ im neuen Jargon, ein Jugendstilhaus mit 400 Plätzen, bleibt der Ort der größten Repräsentation, an den neben den internationalen Gastspielen mehr als bisher auch Berliner Produktionen eingeladen werden sollen. Am erfolgreichen Festival Tanz im August will Lilienthal zusammen mit Bettina Masuch, der Kuratorin für Tanz, ebenso festhalten wie an Projekten zeitgenössischen Musiktheaters. HAU zwei (bisher Theater am Halleschen Ufer) bietet mit 17 Meter Bühne vor 250 Zuschauern ein Cinemascope-Format, während HAU drei als Studiotheater und intimer Raum für Experimente genutzt werden soll.

Lilienthal, der in den Neunzigerjahren Dramaturg im Team der Volksbühne war, will das Hebbel am Ufer neu positionieren: zwischen dem internationalen Gastspielbetrieb der Berliner Festspiele, den diskurs- und theorieverliebten Performances im Podewil, den Kultprodukten im Prater und den hart um Horizonterweiterung kämpfenden Programmen im Haus der Kulturen der Welt. Das ist ein Anspruch, der die Messlatte nicht nur hoch legt, sondern auch diffuse und heterogene Erwartungen erzeugt. Die Kunstszene zum Beispiel beäugt interessiert wie schon lange nicht mehr diesen Spielplan eines Theaters, der ihr vertraute Diskussionen fortführt. Dabei ist Lilienthal auch jemand, der gerne mit dem Understatement kokettiert und durch Kunstferne glänzt. Aber auch mit Glaubwürdigkeit das Motiv der Überforderung von sich und seines Teams von 24 Mitarbeitern herausstellt, wie in einer Beschwörungsformel, als wäre durch Fleiß und hohes Arbeitsethos wettzumachen, was der mit 4,5 Millionen Euro schmale Etat an Risiken birgt. Das Unternehmen Hebbel am Ufer ist angewiesen auf Kooperationen, Förderungen durch den Hauptstadtkulturfonds und nicht zuletzt auf das Halten der internationalen Vernetzungen mit Theatern in Amsterdam, Gent oder London. Deren finanziele Decke wird aber auch ständig dünner.

Lilienthal powert jetzt, um ein größeres Publikum zu gewinnen. 71 Vorstellungen jagen sich im November: Das ist eine Vervierfachung des bisherigen Tempos. Regisseure wie Richard Maxwell aus New York oder Jewgeni Grischkowez aus Kaliningrad stehen jeweils gleich mit zwei Produktionen im Programm. Die Preisstruktur wurde verändert, um ein studentisches und weniger zahlungsfähiges Publikum zum mehrfachen Besuch zu animieren. 15 bzw. 10 Euro kostet der Eintritt im HAU eins, 10 und ermäßigt 6 Euro in den beiden anderen Häusern.

Darüber nachzudenken, wie viel Geld man hat, was Mangel und was Luxus ist, geschieht selten offen im Rahmen der Kunst. Lilienthals Nähe zu einem sozialen Realismus spiegelt sich in seinem Interesse für Theaterprojekte, die dem auf den Grund gehen. Die Recherche wird so ernst genommen wie die ästhetische Form. So begannen die Vorbereitungen für das Eröffnungswochenende mit einer Einladung zum Lokaltermin am Berliner Gericht. „Das Leben ist inszenierter, als wir uns das im Theater vorstellen können“, sagt Stefan Kaegi, einer der drei Regisseure des Rimini-Projektes, die vor Ort beobachten, wie Richter, Staatsanwälte, Zeugen und Angeklagte ihren Rollen ausfüllen. Gekommen waren viele Studenten der Theaterwissenschaft und ehemalige Schöffen, die sich vor allem in einem trafen: in der Bestürzung darüber, wie schnell hier jeder Begriff von Wahrheit und Wirklichkeit zerfällt. Solche Exkursionen wieder stärker ins Blickfeld zu führen liegt diesem Theater am Herzen, zumal in einer Gegenwart, in der sich das Tempo der Entfernung der sozialen Milieus noch einmal beschleunigt hat.