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Archiv-Artikel

Nordpol im Sommer bald völlig eisfrei

Neue Studie: Klimawandel trifft Arktis besonders stark. Temperaturen steigen deutlicher, Gletscher schmelzen schneller als anderswo. Ökosysteme sind bedroht. Wissenschaftler: Die USA wollten Studie bis nach Wahlen zurückhalten

BERLIN taz ■ „Wir erwarten, dass der Klimawandel in den Polgebieten zu den schwersten und schnellsten in allen Erdregionen gehören wird“, prognostizierte das UN-Klimaforschergremium IPCC bereits 2001. „Er wird gravierende physikalische, ökologische, soziologische und wirtschaftliche Folgen haben, vor allem in der Arktis.“ Nun haben Forscher vom Arctic Council, ein Forum von acht Anrainerstaaten der Arktis, diese Einschätzung eindrucksvoll belegt. „Der Klimawandel findet in der Arktis besonders intensiv statt“, lautet das Fazit der Studie Arctic Climate Impact Assesment (Acia) über Klimafolgen für die Arktis, die der taz vorliegt.

Mehr als 300 Forscher haben an dieser Studie mitgewirkt, die in vier Jahren zusammengetragen wurde. Ursprünglich sollte sie Ende Oktober öffentlich debattiert werden, doch der Termin wurde auf Mitte November verschoben – bis nach den USA-Wahlen also. Und zwar auf Druck der Bush-Regierung, wie teilnehmende Forscher beklagen. Die USA sind Mitglied des Arctic Council.

Die Studie zeichnet die bereits absehbaren Folgen des Klimawandels in der nördlichen Polregion nach: Die Temperaturen in der Arktis sind zuletzt fast doppelt so schnell gestiegen wie in den gemäßigten Breiten. In Alaska und Kanada ist es durchschnittlich 3 bis 4 Grad Celsius wärmer als noch 1950; bis Ende dieses Jahrhunderts werden es weitere 4 bis 7 Grad sein. Die Folge: In den Polgebieten schmelzen die Gletscher schneller als anderswo, die Flüsse tragen mehr Wasser, und das Meerwasser wird weniger salzig. „Hält der Trend an, könnten sich Meeresströmungen verändern, die stark das regionale Klima beeinflussen“, warnen die Forscher.

Die Erwärmung hat noch weitere gravierende Folgen: Bereits jetzt ist die Schneedecke in der Arktis um ein Zehntel zurückgegangen; die Studie erwartet bis 2070 eine weitere Abnahme um 10 bis 20 Prozent. Weniger Schneedecke bedeutet, dass weniger Sonnenwärme ins All reflektiert wird – und setzt so einen Teufelskreis in Gang.

In den letzten Jahrzehnten hat sich auch der Permafrostboden um 2 Grad erwärmt, jedes Jahr taut es tiefer in die Erde hinein. Auch das hat einen sich selbst verstärkenden Effekt: Dadurch wird Methan aus dem Boden freigesetzt – ein besonders stark wirkendes Treibhausgas.

Auch auf dem Meer findet sich immer weniger Eis: In den vergangenen 30 Jahren ist die Eisbildung im Sommer um ein Fünftel zurückgegangen; zum Ende des Jahrhunderts erwarten die Forscher im Sommer sogar einen eisfreien Nordpol.

In den vergangenen 100 Jahren ist der Meeresspiegel um 10 bis 20 Zentimeter gestiegen; ein halber Meter wird nach Schätzungen der Forscher in diesem Jahrhundert noch dazukommen. Die Vegetation wird sich drastisch ändern: Die Wälder werden sich immer weiter nach Norden ausbreiten – und die einheimische Flora wie Fauna vertreiben. Eisbären, Karibus, Walrösser, Vögel und Robben werden weniger Platz zum Leben haben. Auch die Kultur der Ureinwohner ist damit bedroht.

Damit nicht genug: Das Ozonloch setzt der Arktis ebenfalls besonders zu: „Die junge Generation wird in ihrem Leben 30 Prozent mehr UV-Strahlen abbekommen als alle Generationen vor ihr.“ Die Erwärmung der Gebiete biete allerdings die Möglichkeit, mehr Ackerbau zu betreiben. Einige Fischarten wie Hering oder Kabeljau würden im wärmeren Meer zahlreicher werden. Im Sommer, so die Forscher, werde die Schifffahrt nördlich von Kanada und nördlich von Russland möglich. Wege übers Eis dagegen würden seltener und gefährlicher.

Die Wissenschaftler stützen ihre Berechnungen auf die Annahme, dass es zu keiner radikalen Veränderung des globalen Kohlendioxidausstoßes kommt. Die Folgen dieses „Weiter so“-Szenarios sollten eigentlich in einem Workshop Ende Oktober in Island vorgestellt werden. So steht es auf der Homepage des arktischen Rats. Dieses Datum ist nun auf den 9. November verlegt worden, bestätigt Gunnar Palsson vom isländischen Außenministerium auf Anfrage der taz. Die Verlegung habe allerdings rein terminliche Gründe, weil die Präsentation der Studie möglichst nahe an einem Treffen der Minister des Arktischen Rats Ende November gelegt worden sei. „Es hat keinen Vorstoß von Seiten der USA gegeben, den Termin zu ändern“, so Palsson. Wissenschaftler, die an dem Projekt beteiligt sind, beklagen dagegen, Vertreter des US-Außenministeriums hätten massiv auf eine Verlegung gedrängt.

Dabei habe die US-Regierung einen aus ihrer Sicht positiven Aspekt der Studie übersehen: Dort heißt es, der Rückgang des Eises in der Arktis werde dazu führen, dass „der Zugang zu Öl, Gas und Mineralvorkommen vor der Küste verbessert wird. Das bringt wirtschaftliche Chancen und ökologische Bedenken mit sich.“ BERNHARD PÖTTER