Der Soldiner Kiez ist besser als sein Ruf

Kiezforschung ergibt: Innenansicht des Weddinger Stadtteils ist besser als Außenansicht. Politiker und Presse forcieren Abwärtsspirale

Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s gänzlich ungeniert. So gesehen könnten die 16.000 Bewohner des Soldiner Kiezes im Wedding getrost die Beine hochlegen und den Dingen ihren Lauf lassen. Denn kein Berliner Stadtteil ist so von Presse und Politikern niedergemacht worden, wie das Viertel zwischen Osloer-, Drontheimer-, Kattegat- und Grüntalerstraße: „Ausländerghetto, Arbeitslosigkeit, Armut, Verwahrlosung, Kriminalität, kurzum: Slum“, so die Beschreibung. Thomas Kilian und seine Mitstreiter von der Arbeitsgruppe Kiezforschung gehören nicht zu den Leuten, die die Dinge unwidersprochen hinnehmen. „Die Verhältnisse sind schwierig, aber die Situation im Kiez ist besser, als sein Ruf“, sagt der Soziologe, der seit zweieinhalb Jahren in dem Stadtteil lebt.

Das sei nicht nur sein persönliches Empfinden, sondern Ergebnis einer Fragebogenaktion, die die AG-Kiezforschung mit Unterstützung von Studenten durchgeführt hat. Zwar sei die Umfrage nicht repräsentativ, betont Kilian, aber was im Kiez für eine Stimmung herrsche, lasse sich daran durchaus ersehen. Schließlich sei darauf geachtet worden, die unterschiedlichen Milieus zu Wort kommen zu lassen.

Ausgewertet wurden laut Kilian die Antworten von elf Angehörigen der Mittelschicht und dreizehn Angehörigen der Unterschicht, 14 Männern und neun Frauen. Die Mehrzahl hat Abitur, der Rest einen Real- oder Hauptschulabschluss. 13 sind deutscher, fünf türkischer Herkunft, die übrigen Angehörige anderer Ethnien von arabisch über finnisch bis jamaikanisch. Das Alter schwankt zwischen 18 und 67 Jahren, wobei Jugendliche und Rentner deutlich in der Minderheit sind. Die Befragten arbeiten unter anderem als Dreher, Verkäuferin, Lehrerin und Hochschuldozent, sechs sind arbeitslos.

Auf einer Bürgerversammlung in der Andersen-Grundschule zum Thema „Was ist dran am schlechten Ruf? – Binnenansicht versus Außenansicht“ wird die AG Kiezforschung das Ergebnis der Frageaktion heute erstmals öffentlich vorstellen. Die Antworten sind in einem 16 Punkte umfassenden Thesenpapier zusammengefasst, das die sehr differenzierte Innenansicht vom Soldiner Kiez wiedergibt, ohne zu beschönigen oder zu dramatisieren. Als negativ vermerkt werden Ethnozentrismus und Ausländerhass. „Das Zusammenleben der Kulturen wird durch Sprachprobleme erschwert.“ Der Kiez habe einen zu geringen Freizeitwert und drohe zu verwahrlosen. Als Beispiel wird der öffentliche Alkoholkonsum genannt. Als problematisch empfunden wird auch, dass Unterschicht und Migranten von Sozialarbeit und Quartiersmanagement nicht wirklich erreicht werden. Das nachbarschaftliche Miteinander funktioniert dagegen „relativ gut“. Positiv vermerkt wird auch, dass die kleinen Leute im Kiez individualistische Überlebenskünstler sind. Sehr interessant ist auch, was die Befragten zum Ruf des Kiezes sagen:Durch Presse und Politik werde eine „Abwärtsspirale aus schlechtem Image und Struktur forciert, was die besser gestellten Familien vertreibt“.

PLUTONIA PLARRE

Die Kiezversammlung findet heute um 19 Uhr in der Kattegatstraße 26 statt.